Utopie vom Ende des Plagiats

Posted on 10th Februar 2013 in Digitale Revolution, Off Topic

Das Plagiat ist wie der Schimmel auf der Käserinde. Man könnte die Rinde wegschneiden und den Käse essen, wenn er denn gut ist. Aber der Ekel und die Vermutung, der Schimmel habe den ganzen Käse verdorben, lässt ihn uns wegwerfen. In der Wissenschaft manifestieren sich Plagiate in fehlenden Fußnoten oder Anführungszeichen. Die Fußnote hätte auf einen früheren Text verweisen sollen, in dem der Gedanke, den sich die vorliegende Studie zu eigen macht, in den gleichen oder anderen Worten, schon einmal oder gar zum ersten mal formuliert ist. Aber auch hier gibt es Grenzen: Natürlich muss man nicht auf die „Kritik der reinen Vernunft“ verweisen, wenn man das Wort „Transzendentalphilosophie“ benutzt. Die Fachkollegen würden schmunzeln.

Die meisten Plagiate in den Kultur- und Sozialwissenschaften (das ist meine Erfahrung mit studentischen Hausarbeiten) treten in jenen Teilen der Arbeit auf, in denen Forschungsgeschichte referiert, Konzepte spezifiziert und Theorien dargestellt werden. Dann wird mangels gründlicher Rezeption der relevanten Texte aus allerlei Sekundärquellen eine auf Kohärenz zielende Darstellung zusammenkomponiert. Und weil es peinlich wäre, die mangelnde Lektüre zuzugeben und „zitiert nach“ zu schreiben, und zu gewagt, die Paraphrase der Sekundärquelle noch einmal durch eine eigene Paraphrase wiederzugeben, tut man so, als habe man das Werk selbst gelesen oder übernimmt wörtlich aus einer Sekundärquelle und lässt den Nachweis weg. Kein Zweifel: Leser und Leserin werden so auf inakzeptable Weise getäuscht.

Wer die Lektüre wichtiger Quellen und Sekundärquellen nur vortäuscht, so könnte man meinen, kann auch keine gute Arbeit schreiben. Stimmt aber leider nicht. Freilich, die guten Studierenden sind klug genug, nicht zu plagiieren. Dennoch erweisen sich bisweilen auch gut oder gar sehr gute Arbeiten als Plagiatsfälle. Die Betreffenden hatten die Theorien, die sie plagiierend referierten, auch ohne vertiefte Lektüre der relevanten Texte verstanden. Und sie waren in der Lage, darauf aufbauend eigenständig zu forschen und neue Erkenntnisse zu generieren. Der Schimmel ist „nur“ auf der Käserinde, den Käse selbst könnten wir eigentlich essen, wenn da nicht unser Ekel wäre.

Bei der Diskussion um Plagiate tritt häufig in den Hintergrund, dass es die eigenständige Denkleistung der Forschenden ist, der Erkenntnissgewinn im Verhältnis zu anderen Arbeiten, der die eigentliche wissenschaftliche Leistung ausmacht. Dennoch ist die Täuschung, vor allem dann, wenn sie gehäuft und systematisch erfolgt, inakzeptabel.

Die utopische Lösung ist, die Täuschung abzuschaffen und mit ihr die Flüchtigkeit, die Ungenauigkeit, die handwerklichen Fehler und was sonst alles noch als Ausrede dafür herhalten muss, wenn Fußnote oder Anführungszeichen fehlen. Die Lösung wäre es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Zitieren und Verweisen zu entlasten. Sie müssten es nicht mehr selber tun dürfen, sondern die Verantwortung an eine Software abgeben müssen. Eine Software, die in einem fertigen Text vor der Publikation alle intertextuellen Bezüge annotieren würde. Die Software müsste besser sein, als die momentan verfügbare Plagiatssoftware, denn sie müsste über die sprachliche Oberfläche hinaus Konzepte und Argumentationsmuster identifizieren und mit einander in Beziehung setzen können. Das ist zurzeit leider utopisch. Und sie müsste sich auf das Gesamtarchiv aller (wissenschaftsaffinen) Texte stützen können. Auch das ist angesichts des geltenden Urheberrechts leider utopisch. Der Zitationsgraph, dessen Granularität man je nach Erkenntnisinteresse regulieren könnte, wäre wissenschaftshistorisch hochinteressant. Und wenn eine Arbeit nur aus Zitaten früherer Werke zusammengestoppelt wäre ohne den Funken einer eigenen Erkenntnis, dann würde sie auch keinen interessieren. Der Käse wäre ungenießbar, aber nicht wegen des Schimmels auf der Rinde.

Leider werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch weiterhin einen gewichtigen Teil ihrer Ressourcen in die Pflege von Literaturdatenbanken und Fußnotenapparaten investieren, Plagiatsjäger ihre Freizeit in das Auffinden für Indizien von Täuschungsabsichten und Fakultäten viel Geld in Lizenzen für Plagiatssoftware.


Das Medienimage der Polizei im SPIEGEL

Posted on 8th Februar 2013 in Inhaltswörter, Kollokationen, Politik, Semantik

Liebe Freunde der Sicherheit,

Anfang der Woche war ich bei einer Polizei-Tagung der Evanglischen Akademie Hofgeismar zum Thema „Demokratie auf der Straße -‚Gutbürger trifft Gutpolizisten'“ eingeladen, um über das Medienimage der Polizei zu sprechen. Eine interessante Veranstaltung, bei der sich Aktivisten, Polizisten und Wissenschaftlerinnen in ungezwungener Atmosphäre begegnen und austauschen konnten. Bei meinem Vortrag zeigte sich, dass das Image der Polizei in den Medien nicht übereinstimmt mit dem Vertrauen, das ein großer Teil der Deutschen in die Insitution der Polizei hat. Denn in den Medien ist die Polizei der Prügelknabe — und dies in doppelter Hinsicht. Das habe ich versucht, am Beispiel des Spiegel (Print und SPON) zu illustrieren.

Allgemeine Frequenzentwicklung

Auch wenn jüngere Zeitgenossen glauben, die Polizei habe in den letzten Jahren wegen Stuttgart 21 und NSU-Desaster im Fokus der Berichterstattung gestanden, relativiert ein Blick auf die Verteilung der Lemmata „Polizei“, „Polizist“, „Polizeibeamter“ und „Ordnungshäter“ im Printarchiv des SPIEGEL diese Einschätzung.

Verteilung von Bezeichnungen für Polizisten im Print-Archiv des SPIEGEL

Verteilung von Bezeichnungen für Polizisten im Print-Archiv des SPIEGEL
Frequenz je 100.000 Wörter; auch bei allen folgenden Grafiken

Im langfristigen Trend geht die Berichterstattung über die Polizei zurück, auf Polizisten wird in etwa gleich häufig Bezug genommen. Auch wenn man sich die Berichterstattung über die Polizei auf Spiegel Online, Politik Inland, anschaut, zeigt sich, dass die Berichterstattung über die Polizei an einzelne Ereignisse gebunden ist und langfristig nicht zugenommen hat.

Entwicklung der Frequenz der Bezeichnungen von Polizei auf SPON (Politik, Inland)

Entwicklung der Frequenz der Bezeichnungen von Polizei auf SPON (Politik, Inland)

Interessant ist hier, dass die Berichterstattung über die Polizei nach der Eskalation in Stuttgart (im Graphen gelb markiert) von der Berichterstattung über die Castor-Transporte deutlich in den Schatten gestellt wird.

Wie wichtig die Protestbewegungen um 1968 für die Polizeiberichterstattung waren zeigt die folgende Grafik, die visualisiert, wie viele unterschiedliche Wörter mit dem Lexem „polizist“ pro Jahr im Spiegel gebildet wurden und wie häufig diese Komposita relativ zur Anzahl der Wörter benutzt wurden.

Komposita mit dem lexikalischen Morphem "polizist": Entwicklung von Token (linke Achse) und Types (rechte Achse)

Komposita mit dem lexikalischen Morphem „polizist“:
Entwicklung von Token (linke Achse) und Types (rechte Achse)

Es zeigt sich, dass die Ereignisse um 1968 die Ursache dafür waren, dass der polizeispezifische Wortschatz in den Medien sich ausdifferenziert hat.

Polizeiliche Mittel

Was wird zum Thema, wenn der SPIEGEL über die Polizei schreibt? Da sind zuallererst einmal polizeiliche Instrumente zur Manifestation des staatlichen Gewaltmonopols zu nennen, beispielsweise der Wasserwerfer:

Auch die Berichterstattung über Wasserwerfer hat Konjunktur

Konjunkturen der Berichterstattung über Wasserwerfer

Die Verlaufskurve reflektiert einige Höhepunkte der Protestgeschichte der BRD: die 68er-Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung und die Proteste gegen die Startbahn West in Frankfurt. Parallel zum Wasserwerfer entdeckte die Presse auch den Polizeiknüppel und den Schlagstock. Erich Duensings geflügeltes Wort vom „Leberwurst-Prinzip — in der Mitte hineinstechen und nach beiden Seiten ausdrücken“ als polizeiliche Taktik für die Auflösung der Demonstration anlässlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 und das Kommando „Knüppel frei“ sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen.

Ein beliebter Gegenstand der Berichterstattung um 1968: der Schlagstock

Ein beliebter Gegenstand der Berichterstattung um 1968: der Schlagstock

Die absoluten Maxima um 1968 sind auch ein Indikator dafür, dass Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz damals in dieser Dimension noch neu waren und die Polizei angesichts der Konfrontation mit Gewalt und Gegengewalt erst mit ihrer Aufrüstung begann. Eine Aufrüstung, die Ende der 1990er auch zur Aufnahme von Pfefferspray in das Repertoire der Einsatzmittel führte.

Der Einsatz von Pfefferspray wird zum Thema

Der Einsatz von Pfefferspray wird seit Ende der 1990er zum Thema im SPIEGEL


Polizeiliche Mittel

Insgesamt muss man aber festhalten, dass in den letzten Jahre deutlich seltener über Polizeieinsätze mit Schlagstock oder Wasserwerfereinsatz berichtet wurde. Auch Komposita, die Polizei in negativer Weise mit dem Einsatz von Gewalt in Verbindung bringen, nehmen im SPIEGEL tendenziell ab:

Frequenz des Lemmas "Polizeigewalt" im Printarchiv des SPIEGEL

Frequenz des Lemmas „Polizeigewalt“ im Printarchiv des SPIEGEL


Frequenz des Lemmas "Polizeiterror" im Printarchiv des SPIEGEL

Frequenz des Lemmas „Polizeiterror“ im Printarchiv des SPIEGEL

Daraus zu schließen, dass die Polizei nun in positivem Licht dargestellt wird, ist aber falsch. Wenn Spiegel Online über die Polizei berichtet, dann signifikant häufig im Kontakt des Einsatzes von Gewalt, wobei die Polizei sowohl Ziel als auch Quelle der Gewaltausübung ist. Und diese Verbindung bleibt in fast allen Jahrgängen von SPON und Spiegel print seit den 1960er Jahren stabil.

Kollokationen zum Lemma "Polizist" in Spiegel Online (Politik Inland) im Jahr 2011

Kollokationen zum Lemma „Polizist“ in Spiegel Online (Politik Inland) im Jahr 2011

Trotz ihres guten Images in der Bevölkerung wird die Polizei in Medien wie dem SPIEGEL also stereotyp mit dem Einsatz von Gewalt assoziiert. Umgekehrt gilt dies auch für Demonstranten, über die vorwiegend nur dann berichtet wird, wenn physische Gewalt im Spiel ist. Dass die Repräsentationslogik der Medien eine Legitimationsmöglichkeit für die Eskalation von Gewalt auf Demonstrationen bietet, liegt auf der Hand. Für die Polizei gilt: keine Presse ist gute Presse.


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Wittgenstein im Web 2.0

Posted on 2nd Februar 2013 in Digitale Revolution, Off Topic

Das Internet hat uns alle zu potentiellen Sendern gemacht. War die Öffentlichkeit früher durch die Gatekeeperfunktion der Massenmedien geprägt, so steht der Zugang zu den publizistischen Produktionsmitteln im Web 2.0 jedermann offen. Der angenehme Effekt, von dem auch ich als Wissenschaftler hier und da beglückt wurde: Einstmals angesehene Autoritäten verlieren ihre Deutungsmacht und kommen in die unangenehme Situation, sich argumentativ rechtfertigen zu müssen — vor den Interessierten und Engagierten, aber auch vor den digitalen Spießern.

Wie ergeht es aber jenen, die sich nicht mehr rechtfertigen können, weil sie etwa schon tot sind? Wie ergeht es beispielsweise dem von mir sehr verehrten Ludwig Wittgenstein im Web 2.0? Auf goodreads.com können Rezensionen zu Büchern hinterlassen werden und auch Wittgenstein wird fleißig und schonungslos besprochen. Solche Rezensionen sind dann von besonderem Wert, wenn sie quer zur bisherigen Forschungsmeinung stehen und Aspekte am Werk betonen, die bislang noch kaum in den Blick gerückt sind, wie etwa in der folgenden Rezension der Philosophischen Untersuchungen von meinem Kollegen Prof X:

wittgenstein_pu_1

Als besonderer Kenner von Wittgensteins Werk erweist sich auch Autor JB. In einer differenzierten Würdigung des Tractatus logico-philosophicus übertrifft er die aphoristische Kraft des rezensierten Werks um Längen:

wittgenstein_tractatus_poo_2

Doch JB kann es noch besser: In einer weiteren Rezension verbindet er auf engstem Raum eine von tiefer Textkenntnis zeugende Einordnung der Philosophischen Untersuchungen in das Gesamtwerk Wittgensteins mit an der historisch-kritischen Methode geschulten Anmerkungen zur Textgestalt, kombiniert dies mit einer biographischen Deutung des Gesamtwerks und verpackt seine Kritik in eine in seiner Tiefgründigkeit nur schwer zu fassende Anspielung auf einen absoluten Höhepunkt der Weltliteratur:

wittgenstein_pu_vogon

Die Konzepte der Autorität und Deutungsmacht relektiert Rezensent Josh in einem anspielungsreichen, den rezensierten Tractatus an intellektueller Schärfe bei weitem übertreffenden, Aphorismus:

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Kommen wir zu einem anderen Klassiker, über den besonders viele weibliche Mitglieder der Netzgemeinde Tiefsinniges ins Eingabeformular getippt haben: Friedrich Nietzsche. Auch hier möchte ich einige der kenntnisreichsten und erkenntnisfördernsten Texte zu Also sprach Zarathustra vorstellen.

Rezensentin Susan vollbringt das intellektuelle Kunststück, Namensschreibung und Deutung des Gesamtwerks überzeugend in eine sinnhafte Beziehung miteinander zu setzen:

nietzsche_zarathustra_spelling

Neu war mir, dass die Plagiatsjäger auch bei Nietzsche fündig geworden sind:

nietzsche_zarathustra_plagiat

Als überaus produktiv erweist sich auch die Lektüre des Werks aus der Perspektive der gender studies, aus der Gloria Suzie zentrale Fragen an Text und Autorfunktion heranträgt:

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Und Autorin Devon dekonstruiert Nietzsche aus einer cis-weiblichen Position:

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Getreu dem Aphorismus „‚Erkenne dich selbst‘, ist die ganze Wissenschaft“ deutet Rezensentin Gini den Text im Sinne der performativen Dimension der Lektüre auf die Leserin, also sich selbst:

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Auch die Autorität eines weiteren Stars der Philosophie bleibt von kritischen Reflexionen im user generated content nicht unangetastet: Immanuel Kant.

Während einige Kants Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft differenziert argumentierend aus grundsätzlichen Erwägungen rundweg ablehnen…

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… stellen andere die Bedeutung des Königsberger Philosophen nicht in Frage, kritisieren ihn jedoch wegen mangelnder Lebhaftigkeit in der Darstellung …

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… und dem zugegebenermaßen chaotischen und unsystematischen Aufbau seines Werks:

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Andere hingegen betonen ganz im Gegensatz zur relativen Körperferne der Transzendentalphilosophie die Materialität des Textes und die Möglichkeit seiner Einschreibung in den eigenen Leib — ein im etablierten philosophischen Diskurs bislang völlig unbeachteter Zugang zu Kants Werk:

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Auch an subtilem Humor fehlt es den Rezensentinnen nicht, die in den feinen Verästerlungen der Sprache ironisch verpackte Kritik anklingen lassen:

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Der letzte Theoretiker, dessen kritische Würdigung im Web 2.0 hier vogestellt werden soll, ist John Langshaw Austin und dessen einflussreiches Hauptwerk How to Do Things with Words. Ein Werk, das schon bei der ersten Sichtung zu begeisterten Kommentaren führt:

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Doch ein eingehendes Studium des Textes lässt auch die kritikwürdigen Aspekte hervortreten. Bean verortet Austin etwa in innovativer Weise im puristischen Diskurs.

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Andere Rezensenten bemängeln trotz Anerkennung des durch Austin geleisteten Erkenntnisfortschritts den mangelnden Anwendungsbezug:

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Kritisch wird das Scheitern der Austinschen Anleitung zum Wortgebrauch auch im Hinblick auf Sprechakte reflektiert, die an Unbelebtes gerichtet werden; eine Dimension, die der Meister in seinem Werk völlig außer Betracht ließ:

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Hannah Arendt schreibt in „Macht und Gewalt“: „Autorität bedarf zu ihrer Erhaltung und Sicherung des Respekts entweder vor der Person oder dem Amt. Ihr gefährlichster Gegner ist nicht Feindschaft sondern Verachtung, und was sie am sichersten unterminiert, ist das Lachen.“ Ich danke dem Web 2.0 für die Öffnung vieler diskursiver Räume und wünsche mir mehr von dem Humor, der in anderen Teilen des Webs immer wieder aufscheint auch in seinem deutschsprachigen Teil.


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Anleitung zur sprachlichen Radikalisierung

Posted on 6th Januar 2013 in Off Topic

Sie wollen die Revolution? Ein bisschen die Welt retten? Oder Sie möchten einfach nur erfolgreich trollen, provozieren, spalten? Achten Sie auf Ihre Sprache! Denn sie ist das beste Mittel, die Wirklichkeit so zu konstruieren, dass nur Ihr Denken als vernünftig und gerecht und nur Ihr Handeln als schlüssig und integer erscheint, das Ihrer Gegner hingegen als falsch, unmoralisch, korrupt oder von mangelnder Awareness geprägt.

Machen Sie sich zunächst mit folgenden Aspekten der Bedeutung vertraut, um möglichst virtuos auf der Klaviatur der sprachlichen Wirklichkeitskonstruktionen spielen zu können:

  • deskriptiver Bedeutungsaspekt: inhaltliche Merkmale, die an einem Sachverhalt durch die Bezeichnung hervorgehoben werden
  • deontischer Bedeutungsaspekt: die Bewertung die die Verwendung eines Ausdrucks transportiert und ihre normative Dimension
  • konnotativer Bedeutungsaspekt: Assoziationen und Emotionen, die mit der Verwendung eines Ausdrucks verbunden sind
  • Referenzobjekt(e): mit dem Ausdruck bezeichnete Gegenstände oder Sachverhalte

Folgen Sie bei der Wahl ihrer Wörter den vier goldenen Regeln:


1. Verengen Sie die deskriptiven Bedeutungsaspekte durch die Wahl Ihrer Bezeichnung auf einen Bereich, der möglichst negativ besetzt ist und ein hohes Skandalisierungspotenzial hat. Spechen Sie von der BRD als einer „Parteiendiktatur“ oder sagen Sie, dass wir in einer „Rape Society“ leben. Oder nennen Sie Personen, die sich für eine Gleichstellung der Geschlechter einsetzen, „Femnazis“. Bedenken Sie aber, dass nicht immer das böseste Wort auch das wirkungsvollste ist, denn es könnte auf Sie zurückfallen.
Welche Bezeichnung wäre wohl für den 29C3 die beste?

  1. „Sexistencongress“
  2. „Kongress für heterosexuelle weiße Männer“
  3. „Burschentag“

Die Antwort ist b., denn mit dieser Bezeichnung transportieren Sie Sexismus- und Rassismusvorwurf, ohne selbst allzu aggressiv zu wirken; „weiß“, „heterosexuell“ und „Mann“ sind ja für die Mehrheit der Menschen erstmal keine bösen Wörter.


2. Wenn Sie etwas kritisieren wollen, erweitern Sie den Bedeutungsumfang eines negativ konnotierten Begriffs so weit, dass der in Ihren Augen kritikwürdige Sachverhalt unter diesen Begriff subsummiert werden kann. Achten Sie darauf, dass die konnotativen und deontischen Bedeutungsaspekte dadurch nicht verwässert werden. Sprechen Sie von „Vergewaltigungskultur“ und sagen Sie Sätze wie: „Ich kann es nicht leiden, wenn mir jemand so intenisv in die Augen guck[t], da fühle ich mich vergewaltigt.“


3. Wenn Wörter nicht in dem Sinn verwendet werden, der Ihren Anliegen entspricht, referieren Sie auf ihre „eigentliche“ oder „ursprüngliche“ Bedeutung, die immer gültig ist. Kritisieren Sie jede Verwendung, in der die Bedeutung von der „eigentlichen“ Bedeutung abweicht, als fehlerhaft, politisch motiviert oder unethisch. Ein hervorragendes Beispiel liefert Ihnen Sprachwissenschaftler A.S., der während seines Talks auf dem 29C3 sagte:
„Student“ bedeutet: „Mann, der studiert“ und nichts anderes. Es bedeutet in jedem Kontext „ein Mann, der studiert“.
Lehnen Sie wie A.S. das Konzept der Gebrauchsnorm ab. Erklären Sie einfach, dass es falsch ist, wenn die Massenmedien „Student“ im Sinn von „Person, die studiert“ verwenden und spekulieren Sie über strukturellen Sexismus. Werfen Sie alle Vorurteile gegenüber dem Analogismus, Präskriptivismus und Purismus über Bord: Die Bedeutung liegt für Sie in den Worten selbst oder in den Strukturen der Sprache, nicht aber in ihrem Gebrauch.


4. Verwenden Sie normative Begriffe mit dem Anspruch, ausnahmslos alle Referenzobjekte mit Ihrer Bezeichnung zu erfassen. Damit schließen Sie nämlich all jene traditionell unter die Bezeichnung gefassten Referenzobjekte aus, die den normativen Ansprüchen nicht entsprechen. Dadurch eröffnen Sie sich völlig neuartige Handlungsoptionen. Reservieren Sie die Bezeichnung „Mensch“ beispielsweise ausschließlich für jene, die sich nicht zu Knechten der von Ihnen verhassten Ordnung gemacht haben, und nennen Sie alle anderen „Typen“ oder „Schweine“. Nun können Sie Sätze sagen wie:
„Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine. Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch. Und so haben wir uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden. Und natürlich kann geschossen werden. Denn wir haben nicht das Problem, daß das Menschen sind, insofern es ihre Funktion ist beziehungsweise ihre Arbeit ist, die Verbrechen des Systems zu schützen, die Kriminalität des Systems zu verteidigen und zu repräsentieren. Und wenn wir es mit ihnen zu tun haben, dann sind das eben Verbrecher, dann sind das eben Schweine, und das ist eine ganz klare Front.“


Sie haben die höchste Stufe der sprachlichen Radikalisierung erreicht. So werden Sie jeden Shitstorm mit einem Achselzucken über sich ergehen lassen, nach jedem Twitterwar als Sieger oder Siegerin vom Feld schreiten. Sie werden für viele Tweets sorgen und häufig retweetet werden. Sie haben erfolgreich getrollt, nachhaltig gespaltet oder die Welt gerettet! Herzlichen Glückwunsch!

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Rechtsextremismus und die Mitte der Gesellschaft: Kulturalismus, Populismus und Skandalisierung

Liebe Freunde der Sicherheit,

vom Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen wurde ich eingeladen, auf einer Tagung einen Vortrag zum Thema „Rechtsextremismus und die Mitte Gesellschaft“ aus sprachwissenschaftlicher Sicht zu halten. Weil ich das Thema relevant finde, habe ich zugesagt. Im Folgenden findet ihr die Analysen, die ich für diesen Vortrag durchgeführt habe.


Grundannahmen

Sprache konstruiert Wirklichkeit. Je nach dem, ob wir einen Gegenstand als „Herdprämie“ oder „Erziehungsgeld“ bezeichnen, heben wir unterschiedliche Aspekte an ihm hervor (Erziehung vs. Frauenpolitik), wecken spezifische Assoziationen (Anerkennung bislang nicht honorierter Leistungen vs. traditionelle Geschlechterrollen), verbinden unterschiedliche Handlungsaufforderungen mit ihm (Zustimmung vs. Ablehnung) und konstruieren ihn so auf je unterschiedliche Weise. Derjenige Akteur, der seinen Sprachgebrauch zur Norm erheben kann, dessen Handeln erscheint als konsistent und legitim. Sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen erfolgen jedoch nicht über das Prägen von Bezeichnungen alleine, sondern auch im Kontext von längeren Aussagen und Aussagezusammenhängen.



Beispiel: Kollokationen zum Lemma „Ausländer“ in rechtsextremen Foren (Ausschnitt)



Eine Möglichkeit, die spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen zu messen ist die Kollokationsanalyse, also die Analyse, welche Wörter überzufällig häufig miteinander auftreten. Wenn beispielsweise „Nerd“ häufig mit „Außenseiter“, „IQ“, „sozial“ und „gestört“ auftritt, dann verrät dies etwas darüber, wie die kulturelle Entität „Nerd“ konstruiert wird.


Vorgehensweise

Ich habe aus zwei rechtsextremen Internet-Diskussionsforen (Forum Deutscher Netzdienst, ein zwischen 2003 und 2009 von der NPD betriebenes Forum) und dem neonazistischen Thiazi-Forum (2007-2012) ein Korpus mit rund 500 personenspezifischen Teilkorpora erstellt. Das Korpus umfasst rund 25 Millionen Wörter. In diesem Korpus habe ich typische Wortverbindungen berechnet. Nun ist natürlich nicht jede Wortverbindung in diesem Korpus gleich ein Indikator für rechtsextreme Gesinnungen: Nazis schlagen nicht nur Fenster, sondern auch Wege ein und die Verbindung von „Weg“ und „einschlagen“ findet sich in Texten „der Mitte“ genauso wie bei Rechtsextremen. Um ein Kriterium für die Ideologizität der Kollokationen zu haben, habe ich mich dafür entschieden, nur solche als Indikatoren für Rechtsextremismus anzusehen, in denen NPD-Schlagwörter vorkommen. NPD-Schlagwörter habe ich identifiziert, indem ich Pressemitteilungen der NPD mit Pressemitteilungen von CDU und SPD verglichen habe.



Typische Lemmata in den Pressemitteilungen der NPD
im Vergleich zu den Pressemitteilungen von CDU und SPD (Auswahl)



Um beantworten zu können, in welchen Bereichen „die Mitte“ offen ist für rechtsextremes Gedankengut, brauchte ich ein Vergleichskorpus. Weil das Konzept der „Mitte“ nicht klar bestimmbar ist, ist meine Wahl auf ein Online-Diskussionsforum gefallen, das plural im Hinblick auf die dort vertretenen politischen Ansichten ist: politikforum.net. Auch hier habe ich ein Korpus aus 577 personenspezifischen Teilkorpora gebildet, das rund 27 Millionen Wörter umfasst. Das ist zwar nicht Big Data, aber schon recht aussagekräftig (zum Vergleich: Der Zauberberg hat rund 300.000 Wörter). Auch für dieses Korpus habe ich Kollokationen berechnet.



Kollokationen zum Lemma „Sozialsystem“ im Vergleich: NPD-Forum vs. politikforen.net
(Schlagwörter der NPD in zwartem rosa)



Offenheit für rechtsextremes Gedankengut habe ich dann darüber berechnet, wie hoch der Anteil von Kollokatoren ist, die beim gleichen Lemma auch bei der NPD Kollokatoren sind, und wie hoch der Anteil von NPD-Schlagwörtern unter den Kollokatoren ist. Schließlich habe ich die Wörter auf der Basis der Kohärenz der in ihnen vorkommenden Kollokationen thematisch gruppiert und als Graphen visualisiert.


Ergebnisse

In welchen Bereichen gibt es also teilweise Übereinstimmungen in den Denkweisen von Rechtsextremisten und der „Mitte der Gesellschaft“? Zunächst einmal finden sich ein paar übliche Verdächtige: Bei den Themen Ausländer / Migration, Islam und Kriminalität konvergiert der Sprachgebrauch in politikforen.net stark mit dem Sprachgebrauch im NPD-Forum.

Das Thema Ausländer / Migration nimmt von den Schnittmengenthemen den größten Raum ein und wird konstituiert durch die Lemmata Abschiebung, Assimilation, südländisch, Gastrecht, ausweisen, integriert, Ausweisung, Ausländer, Migrationshintergrund, Herkunft, nichtdeutsch, Ethnie, Angehörige, Leitkultur, überschwemmen, Zugehörigkeit, Nichtdeutsche, Bande, geboren, ausnutzen, abschieben, Abstammung, nicht-deutsch, ausländisch, Überfremdung, Multikulti, Migration, Migrant, strömen, Heimat, Identität, ertappt, Minderheit, Integration, Elternteil, Asylant, begrenzen, Investor, aussehend, Sozialhilfeempfänger, Sitte, einwandern, kürzen, Rasse, Urbevölkerung, Masseneinwanderung, Rückkehr, Zuzug, Südland und Mentalität sowie durch die Bezeichnungen für einzelne ethnische Gruppen.

Die typischen Verwendungsweisen des Lemmas „Gastrecht“ in politikforen.net illustriert die Nähe zu rechtsextremem Gedankengut.



Kollokationsgraph zum Lemma „Gastrecht“ in politikforen.net. Braune Knoten
markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Das Thema Kriminalität ist nach dem Thema Ausländer / Mirgation das am breitesten diskutierte Thema und wird konstituiert durch die Lemmata straffällig, kriminell, Gewalttat, Kriminelle, gewalttätig, Delikt, Gewalttäter, Straftat, Straftäter, Kriminalitätsrate, Tatverdächtige, Täter, lebenslang, abstechen, gewaltbereit, Bewährung, abschreckend, Kriminalität, Bestrafung, bestrafen, begangen, liegend, Todesstrafe, Statistik, Verbrecher, wegsperren und Mord. Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Kollokationsgraph zum Lemma „kriminell“ in politikforen.net.



Kollokationsgraph zum Lemma „kriminell“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Ein bemerkenswerter Teilbereich mit großer Konvergenz sind Sexualverbrechen, insbesondere Kindesmissbrauch.



Kollokationsgraph zum Lemma „Vergewaltiger“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Die Themenfelder Ausländer / Migration und Kriminalität werden in politikforen.net ebenso wie in den rechtsextremen Foren häufig miteinander verschränkt, wie der Kollokationsgraph zu „nichtdeutsch“ illustriert.



Kollokationsgraph zum Lemma „nichtdeutsch“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Basis für die Themen Ausländerfeindlichkeit in Verbindung mit Kriminalität und Islamophobie / antimuslimischem Rassismus ist eine Ideologie, die ich als Kulturalismus bezeichnen möchte. In ihr werden Menschen als durch ihre Kultur determinierte Wesen konzeptualisiert und kulturelle Unterschiede als unveränderbar und damit unüberwindlich angesehen. Sichtbar wird Kulturalismus im Kollokationsgraphen zum Lemma „Kultur“:



Kollokationsgraph zum Lemma „Kultur“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



„Kultur“ wird als eine an ein Volk gebundene, von Vermischung bedrohte Lebensweise konzeptualisiert, zu der als Prädikat „grundverschieden“ hinzutreten kann. Der Kulturbegriff hat auch im akademischen Diskurs die Funktion, Homogenität zu konstruieren. Auch in den Diskussionsforen ist die Homogenitätsideologie Bestandteil des Kulturalismus:



Kollokationsgraph zum Lemma „homogen“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Neben den Wörtern „Kultur“ und „homogen“ sind es die folgenden Lemmata, die das Feld des Kulturalismus abstecken und in der rechtsextremer Sprachgebrauch mit dem Sprachgebrauch in politikforum.net konvergiert: Abstammung, Volk, Multikulti, Kulturkreis, Heimat, Identität, Minderheit, bewahren, Sitte, zugehörig, Rasse, Lebensweise, aufgeben, Urbevölkerung, vermischen und Mentalität. Eine genauere Analyse würde zeigen, dass der Kulturalismus die Bedingung für die diskriminierenden Konstruktionen in den Themenfeldern Ausländer / Migration, Kriminalität und Islam ist.

Einher mit dem Kulturalismus geht in rechtsextremen wie pluralistischen Diskussionsforen die Legitimierung von Etabliertenvorrechten. Einheimische genießen Vorrechte gegenüber Zugezogenen, Völker leben in ihrer angestammten Heimat:



Kollokationsgraph zum Lemma „angestammt“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Eine weitere semantische Grundfigur, die rechtsextremes Denken in „der Mitte“ der Gesellschaft anschlussfähig macht, ist die argumentative Inanspruchnahme der (schweigenden) Mehrheit der Gesellschaft.



Kollokationsgraph zum Lemma „Mehrheit“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Zusammen mit einer pauschalen Kritik an der politischen Klasse („korrupt“ und „unfähig“) sind die typischen Ingredienzien des Populismus versammelt.



Kollokationsgraph zum Lemma „Politiker“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Eine letzte semantische Grundfigur, die die Debatten in rechtsextremen wie pluralistischen Foren verbindet, ist die Tendenz zur Skandalisierung, die in beinahe allen genannten Themenbereichen präsent ist.



Kollokationsgraph zum Lemma „asozial“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Ich konnte hier nicht alle Bereiche und schon gar nicht in der gewünschten Ausführlichkeit vorstellen. Auch erinneringspolitische Themen wie die Wehrmacht und die Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, aber auch Sozialpolitisches, antikapitalistisch angehauchte Bankenkritik und die Einschränkung von Grundrechten sind Themen, in denen sich rechtsextreme Positionen mit Mittepositionen berühren. Funfact am Rande: auch die Ansichten über den Verfassungsschutz konvergieren in extremistischen und pluralistischen Diskussionsforen.



Themenfelder und semantische Grundfiguren, die eine hohe Kongruenz
mit rechtsextremen Diskursen aufweisen.



Die obige Grafik ist der Versuch, Themenfelder und semantische Grundfiguren zu ordnen.

Neben den erwartbaren Ergebnissen, dass Ausländerfeindlichkeit, Politikverdrossenheit und Kriminalität Türen sind, durch die rechtsextreme Positionen in weiteren Teilen der Gesellschaft eindringen können, zeigt die Analyse, dass auch semantische Grundfiguren des Populismus, der Skandalisierung und vor allem des Kulturalismus der Nährboden für das Gedeihen rechtsextremen Gedankengutes in „der Mitte der Gesellschaft“ sein können.


Parlando – Monitoring des Sprachgebrauchs im Sächsischen Landtag

Posted on 21st Dezember 2012 in Kollokationen, Stilometrie / stylometry, Visualisierung

Liebe Freunde der Sicherheit,

zusammen mit meinem Kollegen Noah Bubenhofer habe ich ein Monitoring des Sprachgebrauchs im Sächsischen Landtag entwickelt.





Es ist unter http://linguistik.zih.tu-dresden.de/parlament/ benutzbar. Viel Spaß beim Herumklicken!

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Gängige Irrtümer bei der maschinellen Autorenidentifikation — Vortrag online

Liebe Freunde der Sicherheit,

bei den diesjährigen Datenspuren des C3D2 in Dresden habe ich einen Vortrag zum Thema „Gibt es einen sprachlichen Fingerabdruck? Gängige Irrtümer bei der maschinellen Autorenidentifikation“ gehalten. Das Video zum Vortrag ist nun online.





Vielen Dank an das Orga-Team für die interessante und perfekt organisierte Tagung!


Wozu braucht man und was macht man mit einer Anti-Terror-Datei?

Posted on 11th November 2012 in Extremismus, Kollokationen, Terrorismus

Liebe Freunde der Sicherheit,

für Malcolm W. Nance, ehemaliger Angehöriger verschiedener geheimdienstlich arbeitender Sektionen innerhalb der U.S. Navy, Geschäftsführer der Beraterfirma SRSI (Special Readiness Services International, Washington), die sich der Schulung von Personal für den Anti-Terror-Kampf und der nachrichtendienstlichen Lagebeurteilung verschrieben hat, und als Experte für Terrorismusbekämpfung häufiger Gast bei FOX News, ist das größte Problem im Anti-Terror-Kampf das Vorurteil. So höre er immer wieder, dass man Terroristen als Lumpenköpfe („ragheads“) oder Kamel-Jockeys bezeichne. Ein Mitglied des Repräsentantenhauses habe sogar im Hinblick auf Al Kaeda empfohlen, einfach alle Menschen mit einer Windel auf dem Kopf („diapers on their heads“) zu verhaften. In seinem aufschlussreichen „Terrorist Recognition Handbook“ (Handbuch zur Erkennung von Terroristen) gewährt er uns tiefe Einblicke in die Denk- und Arbeitsweise jener Anti-Terror-Experten, die unsere Sicherheit vorurteilsfrei allein durch den Gebrauch der Vernunft in Kombination mit vielen, vielen Daten gewährleisten, für deren Speicherung und Strukturierung Datenbanken ein notwendiges Übel sind.

Rule #1 Consider Everyone a Potential Terrorist

Die erste und wichtigste Regel der Anti-Terror-Doktrin lautet: Betrachte jeden als potenziellen Terroristen („Consider Everyone a Potential Terrorist“, p. 27). Königsweg bei der Identifizierung von Terroristen ist das auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse gestützte Profiling. Beim Profiling werden Daten ganz unterschiedlicher Herkunft miteinander verknüpft. Einerseits Grunddaten wie Nationalität, Rasse und Kultur („race and culture“), Alter, biologisches Geschlecht, Muttersprache. Andererseits aber auch solche Daten, die nur durch Beobachtung oder weiter gehende nachrichtendienstliche Mittel erworben werden können; hierzu zählen Kleidungsverhalten, körperlicher Zustand, Waffenbesitz, Besitz verdächtiger Dokumente, klandestines Verhalten, Mitführung hoher Geldbeträge, Verbindungen zu terroristischen Gruppierungen und das Sprechen in Phrasen, die eine tiefe religiöse oder politische Motivation durchscheinen lassen. Doch dies sind nur Sekundärindikatoren.

Terrorist Attack Preincident Indicators

Im Mittelpunkt der Terrorabwehr stehen sogenannte TAPI (terrorist attack preincident indicators; Anzeichen für die Vorbereitung eines Terrorakts). TAPIs sind Handlungen, die potentielle Terroristen durchführen müssen, um überhaupt in der Lage zu sein, einen Terroranschlag zu verüben. Was mögliche TAPIs sind, lässt sich nur anhand der Strategie der Terroristen und ihrer möglichen Ziele bestimmen. Nachrichtendienstliche Informationen zur Ideologie, zum Potenzial und der bisherigen Strategie bekannter Terrorgruppen sind hierfür unabdingbar. Gute Ansatzpunkte zur Beobachtung von TAPIs finden sich im Bereich der Logistik der Terroristen (Safe House, Mobilität, Finanzierung) und der Kommunikation der Terrorgruppenmitglieder (beide sind „group-related indicators“), der Auskundschaftung der möglichen Terroriziele („target-related indicators“) und schließlich bei der konkreten Vorbereitung auf den Anschlag (incident-related indicators). Meldungen über TAPIs müssen natürlich auf ihre Relevanz und ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.

Daten zusammenführen und auswerten

Um Terrorakte im Vorfeld zu erkennen und im Anschluss zu verhindern, müssen die folgenden Daten zusammengeführt werden.

  1. Daten der potenziellen Gefährder
  2. Daten zur Schlagkraft und damit zum Schadenspotenzial bekannter terroristischer Gruppen
  3. Daten zur bisherigen Strategie bekannter terroristischer Gruppen und zum Vorgehen bei Anschlägen
  4. Meldungen über TAPIs

Zwar lässt uns Malcolm W. Nance über die genaue Vorgehensweise bei der Analyse dieser Daten im Dunkeln und spricht nur von „heavy intelligence analysis techniques used by U.S. intelligence and law enforcement intelligence divisions including matrix manipulation, visual investigative analysis charting, link analysis, time charting, and program evaluation review technique (PERT)“ (p. 238), unter denen man sich nur sehr wenig vorstellen kann. Eine — sehr simple — Methode nennt er jedoch: die Schlagwortanalyse („Keyword Analysis“). Werden beispielsweise potenzielle Gefährder in nachrichtendienstlichen Berichten mit TAPIs in Verbindung gebracht und lässt etwa die Herkunft der potenziellen Gefährder auf eine Verbindung zu einer bekannten Terrorgruppe schließen, zu deren Taktik die TAPIs passen, dann müssen in den Sicherheitsbehörden die Alarmglocken schrillen.
Auch beim Chatter, dem unbetimmten, aber vielstimmigen Geraune aus nachrichtendienstlichen Quellen, dass in naher Zukunft etwas passieren könne, hilft die Analyse von Schlagwort-Assoziationen. Im anschwellenden Bocksgesang des Terrorismus treten wiederholt ähnliche Schlagwörter auf und bilden Muster, die bei richtiger Gewichtung in ihrer Zusammenschau einen Hinweis auf den bevorstehenden Terrorakt bilden.

„Neue Qualität der Gefährdungsanalyse“

Aus Sicht von Jörg Ziercke, dem Präsidenten des Bundeskriminalamts, ist mit der sogenannten Antiterrordatei „eine neue Qualität der Gefährdungsanalyse“ erreicht. Der Wert der Daten der (nach Angaben Zierckes zurzeit) 16.000 gespeicherten Personen liegt wohl vor allem darin, die Vielzahl potenzieller TAPIs zu filtern und die Bedeutung einzelner TAPIs zu gewichten. Dies mag zwar einerseits ein Gewinn sein. Andererseits birgt es aber auch eine Gefahr. Wer in einem der oben skizzierten Datenbereiche (Gefährder, Schlagkraft, Taktik, TAPIs) Daten ausschließt, läuft Gefahr auf einem Auge blind zu werden. So blind, wie die Sicherheitsbehörden im Fall des NSU. Hier schätzte sie die Schlagkraft und Taktik (2. und 3.) rechtsextremer Kreise krass falsch ein, obwohl das „Terrortrio“ durchaus auf dem Gefährderschirm der Behörden war. Wenn aber eine zu schmale Datenbasis die Gefahr mit sich bringt, Gefahren nicht zu sehen, dann haben die Behörden ein Interesse daran, dass die Antiterrordatei wächst und insbesondere auch Datensätze von Personen erfasst, die nicht auf den ersten Blick ins Gefährderraster passen. Dass dies der Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts erkennt und in seine Entscheidung mit einbezieht, ist zu hoffen.

Rederepublik Deutschland: Sind die Online-Medien schuld?

Posted on 14th September 2012 in Linguistische Kategorien, Off Topic, Wortschatz

Sprache konstruiert Wirklichkeit. Dies gilt auch für die Sprache, wie sie in der Politik verwendet wird, vielleicht sogar in besonderem Maße. Denn Politikerinnen und Politiker benutzen die wirklichkeitskonstruierende Kraft der Sprache bewusst für ihre politische Agenda. Ob man vom „Betreuungsgeld“ (Regierung) oder der „Herdprämie“ (Opposition), von der „Kopfpauschale“ (SPD, Grüne, Linke) oder dem „solidarischen Bürgergeld“ (CDU/CSU) spricht, jeweils wird der Gegenstand, über den man spricht, in anderer Weise konstruiert und bewertet. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass es nicht einmal mehr derselbe Gegenstand ist, den man von unterschiedlichen Perspektiven durch das Medium der Sprache erfasst, sondern dass durch die unterschiedlichen Bezeichnungen unterschiedliche Gegenstände konstruiert werden. Was Politiker sagen und wie sie es tun, ist also durchaus von Bedeutung für das Verständnis politischer Prozesse.

Auch bei unseren Leitmedien scheint sich diese Erkenntnis durchgesetzt zu haben. In allen Gazetten schreiben Journalistinnen und Journalisten darüber, was Menschen darüber sagen, was andere, mutmaßlich noch wichtigere, Menschen geäußert haben. War das schon immer so? Oder ist das eine Folge des Online-Journalismus mit seiner auf Aktualität getrimmten Kultur, in der jede Äußerung schon eine Meldung wert ist, ohne in größere Nachrichtenzusammenhänge eingebettet zu werden?

Um diese Frage zu beantworten, habe ich mir die Entwicklung der Frequenz von rund 240 Sprachhandlungs- und Kommunikationsverben in drei Textarchiven angeschaut: dem Printarchiv von Spiegel und ZEIT (1947 bis 2010) und dem Archiv von Spiegel Online (2000 bis 2010). Für jeden Artikel habe ich die Frequenz von Kommunikationsverben relativ zur Anzahl der Wörter berechnet, anschließend habe ich den Durchschnitt über alle Artikel eines Jahres gebildet.

Die folgende Abbildung zeigt, dass die Zunahme des Gebrauchs von Kommunikationsverben kein neues Phänomen ist. Schon seit den 1970er Jahren steigt ihr Gebrauch allmählich an. Parallel zu den Anfängen des Online-Journalismus in den 1990er Jahren verstärkt sich jedoch dieser Anstieg. Anders als vermutet, ist die Frequenz bei Spiegel Online auf den ersten Blick nicht dramatisch höher als bei den Print-Medien. (Lesehilfe: Eine relative Frequenz von 0.02 bedeutet, dass jedes 50. Wort ein Kommunikationsverb ist.)





Die Aggregierung der Daten aus allen Ressorts gibt jedoch nur einen recht groben Eindruck. Die ressortspezifische Verteilung von Kommunikationsverben, insbesondere in den Ressorts, die zum Kerngeschäft des Qualitätsjournalismus gehören, erlaubt eine differenziertere Antwort auf die eingangs gestellte Frage. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der relativen Frequenzen in den Ressorts Deutschland (Spiegel Print), Politik Deutschland (Spiegel Online) und Politik (ZEIT Print; die ZEIT differenziert in ihrer Ressortzuschreibung leider nicht zwischen Innen- und Außenpolitik, weshalb ihre Zahlen nur bedingt mit denen des Spiegel vergleichbar sind).





Es zeigt sich auch hier, dass die Zunahme des Schreibens über das, was andere in der politischen Arena gesagt oder geschrieben haben, kein neues Phänomen ist. Doch ist der Unterschied im Gebrauch von Kommunikationsverben zwischen Print- und Online-Medien hier sehr groß. Interessanterweise ist bei Spiegel Online kein Anstieg der Frequenz zu beobachten. Dies bestätigt sich auch beim Blick auf das Ressort Außenpolitik (für die ZEIT hier wieder die Werte aus dem Ressort Politik).





Auch hier verharren die Zahlen bei SPON auf hohem Niveau, die Printmedien nähern sich dem Online-Medium an. Am stärksten hat die relative Frequenz von Kommunikationsverben jedoch in einem anderen Ressort zugenommen: im Ressort Wirtschaft. Auch hier überlagern offenbar zunehmend Berichte über Gesagtes die Berichterstattung zu messbaren Zusammenhängen, bzw. wird die Präsentation von Fakten an deren Verkündigung gekoppelt.





Man müsste das genauer untersuchen, aber als vorläufiges Fazit lässt sich ziehen: Die Personalisierung von Informationen und die Wiedergabe von Aussagen und Meinungen ist eine immer stärkere werdende Tendenz, die durch die Logik der Online-Medien nicht verursacht, aber verstärkt wurde.

Natürlich sind auch Kommunikationsverben dem Wandel der Moden unterworfen. Im gedruckten Spiegel habe ich mal durchgerechnet, welche Kommunikationsverben für die jeweiligen Jahrzehnte typisch sind (alle signifikant, geordnet nach Frequenzfaktor):



2000er: telefonieren, nerven, mitbekommen, prognostizieren, nachfragen, sagen, mitverfolgen, wetten, lachen, bereuen, mitlesen, reden, nachdenken, kapieren, weinen, bewerten, beten, verklagen, streiten, kritisieren, meckern


1990er: petzen, telefonieren, nerven, kapieren, prognostizieren, mitverfolgen, heucheln, maulen, verfluchen, klagen, meckern, ahnen, drohen, beteuern, warnen, jammern, spekulieren, streiten, beschreiben, bereuen, hetzen, suggerieren


1980er: kritteln, mitverfolgen, denunzieren, anprangern, meinen, petzen, differenzieren, beklagen, bejahen, verhehlen, ermutigen, akzeptieren, beschreiben, nachdenken, bemitleiden, postulieren, bedauern, wiederholen, unterstellen, beteuern


1970er: kritteln, postulieren, bejahen, differenzieren, negieren, geloben, erhoffen, konstatieren, prophezeien, beurteilen, empfehlen, verwahren, verneinen, ermuntern, mitlesen, scheuen, voraussehen, monieren, widerlegen, schildern, vermuten, bezweifeln, denunzieren, diskutieren


1960er: gedenken, befehlen, bejahen, gestatten, bemitleiden, konstatieren, verwahren, verneinen, ermahnen, verhehlen, verbitten, bitten, verabscheuen, widerlegen, antworten, bedauern, empfehlen, geloben, bedenken, ermuntern, unterstellen, feststellen, verraten


1950er: gestatten, gedenken, feststellen, vorschlagen, verneinen, ablehnen, kommentieren, antworten, tippen, befehlen, schreiben, bitten, bedauern, bekennen, verabscheuen, verhehlen, beweisen, versichern, beleidigen, bejahen, nachweisen, verbitten


1940er: tippen, singen, betonen, schreiben, sprechen, verbieten, befehlen, bedauern, gratulieren, antworten, feststellen, nennen, gedenken, schreien, staunen, verklagen, lachen, verurteilen, verabscheuen, ablehnen, wetten, verzeihen, verwahren, kommentieren, bereuen, bekennen


Zuletzt noch ein Schmankerl: Weil alle immer auf das Panorama-Ressort von SPON eindreschen, zum Schluss noch ein Vergleich zwischen den Panorama-Ressorts von Spiegel Online und Spiegel Print („Panorama“ bis 1986, ab 1987 Ressort „Gesellschaft“).






So schlimm ist es also gar nicht mit dem Online-Journalismus. Dazu demnächst mehr auf diesem Blog.

Kulturwissenschaften im Data-driven Turn: Zeitgeschichtliche Umbrüche in der ZEIT

Posted on 21st August 2012 in Linguistische Kategorien, Off Topic, Visualisierung

Liebe Freunde der Sicherheit,

Die Kultur- und Sozialwissenschaften befinden sich im Data-driven Turn. Das Arbeiten mit datengeleiteten Methoden steckt zwar noch in den Kinderschuhen, sein Potenzial wird aber immer sichtbarer und beflügelt die Phantasien von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Fortschritte in der Digitalen Bildverarbeitung ermöglichen es den Bildwissenschaften, typische Konfigurationen in visuellen Darstellungen datengeleitet zu ermitteln; der Wandel von Musik wird anhand von strukturentdeckenden Verfahren über große Mengen digitaler Musikstücke berechenbar; die Geschichteswissenschaft erfindet sich unter dem Label „Data Driven History“ neu; in der Soziologie werden Daten aus sozialen Netzwerken dazu benutzt, die lebensstilsspezifische Gliederung sozialer Gemeinschaften aufzudecken; und in der Kunstgeschichte lassen sich auf der Basis bildspezifischer Figurationen Kunstgeschmäcke, Sujets oder ganze Kunststile berechnen. Diese Entwicklungen haben das Potenzial, die Kultur- und Sozialwissenschaften nachhaltig zu verändern, weshalb wir von einem Data-driven Turn sprechen wollen.


Datengeleitete Methoden

Data-driven heißt, auf vorgängige Hypothesen zu verzichten, induktiv Strukturen in den Daten zu ermitteln und im erst im Anschluss zu kategorisieren und zu interpretieren. Dadurch geraten Evidenzen in den Fokus, die entweder quer zu den vorher existierenden Erwartungen stehen und die Grundlage für neue Erklärungsmodelle sein können, oder im besten Fall sogar solche Evidenzen, die die Bildung alternativer Analysekategorien nahelegen. Für die Kultur- und Sozialwissenschaften bedeutet der Data-driven Turn, dass sie ihren Datenhunger nicht mehr mit Hinweis auf forschungspraktische Grenzen (begrenzte Ressourcen für Lektüre und Codierung) limitieren müssen. Je mehr Daten, desto besser! Das bedeutet freilich auch: hermeneutische oder dekonstruktive Lektüre jedes einzelnen Exemplars ist unmöglich.


Beispiel: Frames im ZEIT-Archiv

Zusammen mit David Eugster und Noah Bubenhofer habe ich mir das ZEIT-Archiv (1946-2011) vorgenommen, um zu untersuchen, ob sich zeitgeschichtliche Umbrüche berechnen lassen. Hierfür haben wir die Veränderung des Auftretens von Frames und ihrer Vernetzung untersucht. Mit dem Ausdruck „Frame“ bezeichnen wir Interpretationsschemata, mit deren Hilfe wir Erfahrungsdaten verarbeiten. Durch Framing werden Informationen für uns überhaupt erst sinnhaft. Wir beschäftigen uns im Folgenden also mit dem Wandel von Realitätskonstruktionen in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Frames werden durch bestimmte Indikatoren aktiviert — wir haben sie anhand der Distribution von Lemmata in Zeitungstexten identifiziert.


Umbrüche

Umbrüche nennen wir jene Zeiträume, in denen sich besonders große Verschiebungen im Frame-Haushalt beobachten lassen. Wir haben sie anhand der jahresweisen Differenzbeträge berechnet: einmal mit relativen Frame-Frequenzen, einmal mit normalisieren relativen Frame-Frequenzen. Während bei der Berechnung der Differenzbeträge der relativen Frequenzen die hochfrequenten Frames ein höheres Gewicht haben, werden bei der Berechnung der Differenzbeträge der normalisierten Frequenzen alle Frames gleich gewichtet. Wie die folgende Grafik belegt, führen aber beide Berechnungsmethoden zu ähnlichen Ergebnissen:



Jährliche Summen der Differenzbeträge aller Frames im Vergleich zum Vorjahr
im Print-Archiv der ZEIT, 1946-2011. Oben: relative Frequenzen,
Unten: normalisierte relative Frequenzen.



Die Grafiken zeigen, dass in den Jahren 1957-1959 (mit Schwerpunkt 1959), 1970, 1981, 1992 und 2008-2010 (mit Schwerpunkt 2008) besonders starke Veränderungen im Framehaushalt im Vergleich zu den Vorjahren zu beobachten sind. Auch die Jahre 2001-2003 können, wenn auch leicht abgeschwächt, als Jahre der Veränderung gelten. Diese Zunahmen im Differenzbetrag deuten wir als Indikatoren für eine starke Veränderung in der semantischen Matrix und damit als Umbrüche im oben beschriebenen Sinn. Insbesondere bei den Umbrüchen von 1969/70, 1980/81 und 1991/92 sind in den folgenden Jahren nur vergleichsweise geringe Veränderungen zu beobachten, während nach den Umbruchjahren 1957-1959 und 2008-2010 eine allmähliche Verringerung der Variation zu beobachten ist.
Einige dieser anhand der Frameanalyse identifizierten Umbruchjahre lassen sich auf zeitgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen beziehen: der Umbruch von 1969/70 könnte als Folge der 68er-Bewegung gedeutet werden, die Veränderungen von 1991/92 als Nachwirkung der deutschen Einheit, die Variation in den Jahren 2001 bis 2003 als Effekt der Terroranschläge vom 11. September 2001 und die starken Veränderungen nach 2008 als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise. Bei den Umbruchjahren 1957 bis 1959 und 1980/81 ist es jedoch schwieriger, eine plausible zeithistorische Begründung zu finden. Können hier Wiederbewaffnung und Diskussion um die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen, europäische Integration (1957-1959) und NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung (1980/81) als Erklärung herangezogen werden?


Detailanalyse

Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man detailliert untersucht, welche Framekonstellationen sich in den Umbruchsjahren besonders stark verändern. Wir haben die Veränderungen mit Hilfe von Kollokationsgraphen visualisiert, was ich im Folgenden am Beispiel des Umbruchs 1991/1992 illustrieren will: Wir haben einen Frame-Kollokationsgraphen für den ersten Zeitabschnitt (1991) und einen für den zweiten Zeitabschnitt (1992) berechnet und die beiden Rhizome zu einem gemeinsamen Graphen vereint, in dem die spezifischen Frame-Kollokationen der Umbruchjahre hervorgehoben sind. Wie die folgende Abbildung zeigt, lassen sich in diesem Graphen drei Cluster identifizieren, in denen besonders viele für das Umbruchjahr 1992 spezifische Frame-Kollokationen verdichten.



Frame-Kollokationen im ZEIT-Archiv der Jahre 1991 und 1992.
Spezifische Frame-Kollokationen des Jahrs 1992 sind schwarz hervorgehoben.



Besonders interessant erscheint uns das Cluster 2, das sich um die Frames „Freiheit“ und „Nation“ formiert.



Frame-Kollokationen im ZEIT-Archiv der Jahre 1991 und 1992, Cluster 2.
Spezifische Frame-Kollokationen des Jahrs 1992 sind schwarz hervorgehoben.



Der Frame „Nation“ ist dabei erwartbar stark verbunden mit dem „Freiheits“-Frame, welcher wiederum soziologische Frames wie „Mittelschicht“ und politisch-rechtliche wie „Grundsatz“ um sich bündelt aber auch jenen der „Befreiung“. Zugleich entsteht 1992 um den Frame „Nation“ eine Verbindung mit Frames wie „Mode“ und „Geschmack“, „Kunstsinn“, „Kulturelle Entwicklung“. Damit öffnen sich die Verbindungen die der Frame „Nation“ eingeht im Gegensatz zur Situation im Jahr 1991: Im jahresspezifischen Rhizom finden sich keine solchen typischen Bezüge: „Nation“ verbindet sich mit „Herrschen“ und „Politik“. Darin zeigt sich eine Wandel der Konstruktion des Nationalen von einer auf politischem Handeln gründenden staatlichen Einheit (1991) hin zu einer stärker über kulturelle Werte definierten nationalen Gemeinschaft (1992). Zugleich macht das Rhizom Erfahrungsmöglichkeit der Nation und ihrer Wiedervereinigung auf der Ebene persönlicher sinnlicher Konsumerfahrung sichtbar.


Web-Monitoring

Die dargestellten Methoden spielen auch in der sogenannten Sicherheitsinformatik im Bereich Webmonitoring eine Rolle. Veränderungen in den Aktivitätsmustern von Usern und im Themenspektrum von Online-Diskussionsforen können so aufgespürt und auf Kritikalität hin untersucht werden.


Zum Nachlesen

Das Preprint zum Aufsatz zur ZEIT-Analyse ist online verfügbar.

Weitere Analysen zum ZEIT-Archiv auf diesem Blog:


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