Sieben entscheidende Fragen zur Bundestagswahl: Die Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien

Posted on 21st September 2013 in Off Topic, Politik

Der Bundeswahlleiter hat einen Datensatz mit den Namen aller Kandidierenden zur Bundestagswahl veröffentlicht. Dies ermöglicht uns einige tiefe Blicke in die Binnenstruktur der Parteien, die bei der Findung unserer Wahlentscheidung hilfreich sein können, denn Sie ermöglichen die Antwort auf folgende wahlentscheidende Fragen:


1. Ist die AfD eine „Professoren-Partei“?
Nein, das ist sie nicht! Bei FDP und CDU ist der Anteil der Professorinnen und Professoren unter den Kandidaten deutlich höher als bei der AfD.

Anteil der Professorinnen und Professoren an den Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 nach Parteien

Anteil der Professorinnen und Professoren an den
Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 nach Parteien



2. Welche Partei schickt die meisten Promovierten ins Rennen?
Auch im Hinblick auf den Anteil Promovierter kann die AfD keine intellektuelle Führerschaft für sich beanspruchen. Hier hat die CSU die Nase klar vorn. Aber wir wissen ja, dass diese Zahlen sich im Laufe einer Legislaturperiode durchaus verändern können, gerade bei der CSU.

Anteil der Promovierten an den Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 nach Parteien

Anteil der Promovierten an den Kandidaten zur Bundestagswahl 2013
nach Parteien

Professorinnen und Proefessoren kandidieren übrigens sehr viel häufiger als ihre Mitbewerber gleichzeitig als Direktkandidaten und via Liste. 70% der kandidierenden Professoren (14) kandidieren doppelt, während es beim Rest der Mandatsbewerber gerade einmal 38% sind. Immerhin noch 57% der Promovierten sind auf doppeltem Ticket Richtung Bundestag unterwegs. Akademische Lorbeeren scheinen sich also auszuzahlen.


3. In welchem Bundesland kandidieren die meisten Promovierten?

Anteil der Promovierten an den Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 nach Bundesländern

Anteil der Promovierten an den Kandidaten zur Bundestagswahl 2013
nach Bundesländern

Den höchsten Anteil Promovierter an den Kandidaten findet sich in Schleswig Holstein (13.7%) und Mecklenburg-Vorpommern (12.6%). Im Saarland ist der Anteil an Promovierten am geringsten (0.0%).


4. Wie alt ist der durchschnittliche Kandidat der einzelnen Parteien?
Im Hinblick auf das Alter der Kandidatinnen und Kandidaten ist die Piratenpartei mit Abstand die jüngste. Ihre Kandidaten sind mit 39,5 Jahren im Durchschnitt noch 5 Jahre jünger als die der Grünen.

Durchschnittsalter der Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 nach Parteien

Durchschnittsalter der Kandidaten zur Bundestagswahl 2013
nach Parteien

Die im Durchschnitt ältesten Kandidaten haben AfD (50,2) und Linkspartei (49,4).


5. Welche Partei hat den höchsten Anteil junger / alter Kandidaten?
Schaut man sich den Anteil junger Kandidatinnen und Kandidaten noch etwas genauer an, so überrascht der hohe Anteil an unter 45-jährigen Kandidaten bei der CSU. AfD und Linke konkurrieren auch hier um den ersten Platz im Vergreisungsranking.

Altersstruktur der Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 nach Parteien

Altersstruktur der Kandidaten zur Bundestagswahl 2013
nach Parteien

Ältester Kandidat ist übrigens Imanuel Regehly, der für die NPD in den Bundestag einmarschieren will. Er ist Jahrgang 1923. Allerdings wird er wohl noch mindestens 4 Jahre auf ein Mandat (und die Alterspräsidentschaft) warten müssen, denn er kandidiert auf der Landesliste Berlin auf dem aussichtslosen 10. Platz einer mehr als überflüssigen Partei.


6. Bei welcher Partei sind die Erfolgschancen für junge / alte Kandidaten besonders groß?
Entscheidend ist freilich die Frage, auf welchen Listenplätzen jüngere bzw. ältere Kandidaten platziert werden. Bei der CDU ist eine eindeutige Tendenz zu beobachten. Über 60-jährige landen deutlich eher auf vorderen Listenplätzen, während sich jüngere Kandidaten (> 45) auf den weniger aussichtsreichen Plätzen finden.

Altersstruktur der Altersstruktur der Kandidaten nach Listenplätzen bei der CDU (Bundestagswahl 2013)

Altersstruktur der Altersstruktur der Kandidaten
nach Listenplätzen bei der CDU (Bundestagswahl 2013)

Trotz des höheren Durchschnittsalters der Kandidaten der SPD haben hier jedoch jüngere Kandidaten größere Chancen auf vordere Listenplätze als bei der CDU.

Altersstruktur der Altersstruktur der Kandidaten nach Listenplätzen bei der SPD (Bundestagswahl 2013)

Altersstruktur der Altersstruktur der Kandidaten
nach Listenplätzen bei der SPD (Bundestagswahl 2013)



7. Wie lauten die häufigsten Vornamen der Kandidatinnen und Kandidaten?
Weibliche Kandidaten heißen häufig Sabine, Barbara, Gabriele oder Claudia.

Die häufigsten weiblichen Vornamen der Kandidatinnen zur Bundestagswahl 2013

Die häufigsten weiblichen Vornamen der Kandidatinnen
zur Bundestagswahl 2013

Männliche Kandidaten heißen Michael, Thomas, Andreas, Peter oder Christian.

Die häufigsten männlichen Vornamen der Kandidaten zur Bundestagswahl 2013

Die häufigsten männlichen Vornamen der Kandidaten
zur Bundestagswahl 2013

Dabei zeigen sich allerdings einige Tendenzen: Männer mit den Namen Alexander, Christian, Peter oder Stefan finden sich signifikant häufig bei der CSU, Kandidaten mit den Namen Andreas, Jürgen oder Sebastian finden sich eher bei den Piraten, Daniel, Jörg kandidieren eher für die FDP, Dirk für die SPD und Jürgen für die Grünen. Peter und Thomas sind typische Namen für Kandidaten der CDU, Thomas könnte aber auch für die Linke kandidieren, ebenso wie Wolfgang.


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Kollokationen und Koalitionen: Die semantische Nähe von Parteiprogrammen in korpuslinguistischer Perspektive

Posted on 4th August 2013 in Kollokationen, Semantik

Semantische Nähe von Texten kann man auf unterschiedliche Weisen berechnen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Verwendungsweisen von Schlüsselbegriffen zu vergleichen. Wenn zentrale Begriffe in Texten ähnlich verwendet werden (in korpuslinguistischer Perspektive: ein ähnliches Kollokationsprofil haben), dann sind sich die Texte ähnlich.

Dieses Verfahren habe ich verwendet, um die Nähe zwischen den Wahlprogrammen der Parteien zu berechnen. Vielleicht kann diese als Indiz dafür gelten, ob sich die Parteien als Koalitionspartner eignen oder nicht. Verglichen wurden die Kollokationsprofile von 350 frequenten Wörtern aus unterschiedlichen Politikbereichen. Im Folgenden zunächst die Ergebnisse der für die CDU.

cdu_koalitionen

Die größte semantische Nähe zum Wahlprogramm der CDU hat wenig überraschend das Wahlprogramm der FDP. Besonders ähnlich werden Wörter aus den Bereichen Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Bildung benutzt. Überraschend ist die Nähe des CDU-Wahlprogramms zu dem der Piratenpartei. Diese verdankt sich dem ähnlichen Gebrauch von Schlagwörtern aus dem Bereich der Arbeitsmarktpolitik und dem Bereich Integration / Vielfalt / Beteiligung. Interessant ist zudem, dass aus Sicht des CDU-Wahlprogramms die Nähe zu BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN größer ist als die Nähe zur SPD: Schwarz-grün wäre also in semantischer Perspektive besser als eine große Koalition. Bei der SPD ergibt sich ein anderes Bild:

spd_koalitionen

Neben der großen semantischen Nähe zu den GRÜNEN ist hier bemerkenswert, dass die CDU im Näheranking der zweitbeste Partner für eine Koalition wäre. Eine Neuauflage der sozialliberalen Koalition läge in korpuslinguistischer Perspektive sogar näher als eine Zusammenarbeit mit der Partei DIE LINKE — vielleicht wird hier die Handschrift Peer Steinbrücks sichtbar. Große Differenzen zwischen LINKE und SPD finden sich besonders bei Schlagwörtern aus den Bereichen der Arbeitsmarktpolitik, Arbeitnehmerrechte und Bildungspolitik. Von besonderem Interesse ist natürlich auch die semantische Nähe der GRÜNEN zu den anderen Parteien, könnten diese doch je nach Wahlausgang zum Zünglein an der Waage werden.

gruene_koalitionen

Das Wahlprogramm der GRÜNEN zeigt eine klare Affinität zum Wahlprogramm der SPD. Die korpuslinguistische Untersuchung würde den GRÜNEN eher zu einer Linkskoalition raten, denn die semantische Nähe zur Partei DIE LINKE ist deutlich größer als die zur CDU.

Aber der Sprachgebrauch kann sich schnell ändern. Er passt sich den politischen Gegebenheiten an. Und Wahlprogramme sind keine Regierungsprogramme.


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Wahlprogramme in korpuslinguistischer Perspektive

Posted on 5th Juli 2013 in Kollokationen, Politik

Für ein Blog, das die Bundestagswahl aus linguistischer Perspektive begleiten soll, habe ich zusammen mit meinem Kollegen Noah Bubenhofer die Wahlprogramme der Parteien aufbereitet.



polittrend_header

Einerseits als um ein Lexem gruppierte Kollokationsgraphen: Hier kann man vergleichen, wie die CDU, SPD, Grüne, Linke, FDP und Piraten zentrale Begriffe verwenden.



polittrend_wahlprogramme

Andererseits als Rhizome: Im Quiz müsst ihr raten, welcher Kollokationsgraph zu welcher Partei gehört. Viel Spaß!


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Der Wahlkampf wird kuschelig: Das Corporate Wording der Parteien in ihren Wahlprogrammen

Posted on 30th Juni 2013 in Politik, Wortschatz

In Zeiten, in denen Parteien Marken sind, ist das Corporate Wording einer Partei ebenso programmatisch wie ihre inhaltlichen Aussagen. Bei Wahlprogrammen handelt es sich um eine Textsorte, bei der jedes Wort sorgfältig erwogen und auf die Zielgruppen hin abgestimmt ist. Eine sprachliche Analyse der Wahlprogramme ist daher ein guter Indikator für die Strategie, die die Parteien im Wahlkampf verfolgen.
Ich habe die Verteilung verschiedener semantischer Klassen in den Wahlprogrammen von CDU, SPD, GRÜNEN, LINKE und der Piratenpartei untersucht. Sie zeigt, wie sich die Parteien im laufenden Wahlkampf positionieren, welches Bild sie von der Lage in Deutschland sich zu zeichnen bemühen und wie kämpferisch sie sich geben. Untersucht habe ich die Verteilung von positiven (bspw. innovativ, stabil, sicher) und negativen (bsp. falsch, überflüssig, prekär) Adjektiven, von Kampfvokabular (bspw. Sieg, Kampf, Widerstand, Aktion) und von Angst einflößenden Vokabeln (bspw. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophe).

Ergebnisse für Wahlprogramm: CDU

Die folgende Graphik zeigt, wie sich die Distribution der genannten semantischen Klassen im Wahlprogramm der CDU vom Durchschnitt aller anderen Wahlprogramme unterscheidet.



Die CDU ist als Regierungspartei offensichtlich darum bemüht, positive Botschaften zu verbreiten, den Zustand des Landes in angenehmen Farben zu zeichnen und Probleme gar nicht erst zu thematisieren, denn diese Probleme hätte sie in der zu Ende gehenden Legislaturperiode ja lösen können. Gleichzeitig wird auch ersichtlich, dass die CDU keine Angst vor der Zukunft verbreitet und sich nicht sehr kämpferisch gibt. Die positiven Adjektive mit der höchsten Typizität sind verlässlich, erfolgreich, stabil, klug, solide, stark und glaubwürdig — allesamt Eigenschaften, die auch der Kanzlerin von ihrer Partei stereotyp zugeschrieben werden. Hinzu kommen Adjektive, die Deutschland und seine Position in der Welt charakterisieren: hervorragend, führend, herausragend, funktionierend. Man fühlt sich versucht (in unrühmlicher rhetorischer Tradition) zu paraphrasieren: Die Partei ist Merkel, Merkel aber ist Deutschland wie Deutschland Merkel ist.

Ergebnisse für Wahlprogramm: FDP

Während die CDU sich klar positioniert als Stabilitäts- und Wohlfühlpartei Deutschlands positioniert, wirkt das Parteiprogramm der FDP sprachlich eher blass:



Auch sie versucht als Regierungspartei, eine negative Darstellung der Situation zu vermeiden. Ansonsten liegt sie im Hinblick auf die untersuchten semantischen Klassen aber im Durchschnitt und bleibt daher eher blass.

Ergebnisse für Wahlprogramm: DIE GRÜNEN

Wenig überraschend ist, dass die GRÜNEN als Oppositionspartei überdurchschnittlich häufig negativ besetzte Adjektive benutzen. Viele von diesen verweisen wie ungerecht, unfair, prekär oder diskriminierend auf soziale Ungleichheit.



Eher global kritischen Charakter haben Ausdrücke wie mies, verheerend, unzureichend, falsch, schädlich, schlecht oder mangelhaft, die bei den GRÜNEN signifikant häufiger auftreten, als bei den anderen Parteien. Nur eines der für die GRÜNEN typischen negativ besetzten Adjektive verweist noch auf die Wurzeln in den Neuen Sozialen Bewegungen: repressiv. Auffällig ist, dass auch die GRÜNEN leicht überdurchschnittlich viele positiv besetzte Adjektive benutzen. Die typischsten zeichnen das Bild einer Partei, die ehrlich, fair, glaubwürdig, zuverlässig und vernünftig ist, sich für ein würdiges, humanes und menschenwürdiges Leben und eine intakte, saubere und gesunde Umwelt einsetzt und kreativ, lebendig und intelligent handelt.

Ergebnisse für Wahlprogramm: SPD

Ihr potenzieller Koalitionspartner SPD überrascht durch Sparsamkeit im Bereich negativer Adjektive und Zurückhaltung beim Gebrauch von Kampfvokabular bei gleichzeitiger Verwendung zahlreicher positiv besetzter Adjektive. Eine politische Kampfansage sieht anders aus.



Besonders häufig fallen die Adjektive gerecht und nachhaltig, die zumindest teilweise auf traditionell sozialdemokratische Kernthemen verweisen. Zugleich sind aber auch Adjektive, die eher dem Vokabular des Kanzlerkandidaten zu entstammen scheinen typisch für das Wahlprogramm der SPD: erfolgreich, professionell, fortschrittlich, effizient und flexibel. Der überdurchschnittlich häufige Gebrauch von Angst einflößenden Vokabeln ist dem häufigen Verweise auf Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Armut geschuldet.

Ergebnisse für Wahlprogramm: DIE LINKE

Als einzige echte Oppositionspartei profiliert sich DIE LINKE — und dies nicht nur aufgrund ihrer von den anderen Parteien nicht als koalitionsfähig empfundenen politischen Positionen, sondern auch aufgrund ihres Sprachgebrauchs.



DIE LINKE benutzt überdurchschnittlich wenig positive Adjektive und kompensiert dies durch einen überdurchschnittlichen Gebrauch von Adjektiven, die auf negativ bewertete Sachverhalte hinweisen. DIE LINKE referiert zudem besondes häufig auf Gefahren, die Angst und die Unsicherheit der Menschen. Die Angst einflößenden Vokabeln stammen erwartungsgemäß aus dem durch die Lemmata Krise, Wirtschaftskrise und Finanzkrise konstituierten Wortfeld der volkswirtschaftlichen Missstände, die Armut zur Folge haben. Aber auch das Feld der staatlichen Überwachung ist im Parteiprogramm der LINKEN angekommen.

Ergebnisse für Wahlprogramm: Piratenpartei

Noch schwärzer als DIE LINKE zeichnet lediglich die Piratenparten die gegenwärtige politische Lage. Bei ihnen dominiert das Vokabular aus dem Wortfeld Überwachung die Liste der typischen Vokabeln, die Angst und Unsicherheit verbreiten. Bemerkenswert ist, dass sich in der Liste der negativ besetzten Adjektive Wörter wie diskriminierend und repressiv finden. Das negativ besetzte Adjektiv mit der höchsten Typizität ist allerdings mangelnd.


Fazit

Aus Sicht der Wahlprogramm-Analyse dürfte der Wahlkampf wenig kontrovers werden. Die CDU verspricht die Kontinuität einer aus ihrer Sicht erfolgreichen Politik, während die SPD auf den direkten Angriff verzichtet und sich als Partei einer modernisierten Sozialdemokratie inszeniert. Von den potenziellen Regierungsparteien bemühen sich lediglich die GRÜNEN um eine deutliche Kritik am status quo. Dazu kommen eine blasse FDP, die schon als Oppositionspartei feststehende LINKE, die sich als einzige echte Opposition inszeniert, und eine kaum hörbare Piratenpartei. Dass der Wahlkampf kuschelig werden könnte, davon zeugen auch die Kommunikationsverben, die für das Wahlprogramm der CDU typisch sind. Unter ihnen finden sich Verben wie ermuntern und ermutigen, die die Partei in der Rolle des wohlmeinenden Ratgebers, ja engen Freundes der Menschen im Land zeigen, aber auch vertrauen und nicht zuletzt fühlen, die eine geradezu persönliche Verbindung zwischen Wählern und einer vertrauenswürdigen, einfühlsamen Partei evozieren sollen. Und diese im Medium der Sprache erzeugte Verbindung ist wichtiger als alle politischen Inhalte.

Kommunikationsformen und die Utopie von einer anderen Demokratie: Piraten, Grüne und 68er

Posted on 16th April 2012 in Off Topic, Politik

Wer nachhaltig für seine politischen Ziele mobilisieren will, der braucht Kommunikationsformen, die die Utopie von einer anderen Demokratie glaubhaft symbolisieren.


1968

Als am 15. September 1967 einige hundert junge Menschen versuchten, mit einem Go-in in die Sondersitzung des Abgeordnetenhauses Berlin im Schöneberger Rathaus einzudringen, gaben sie vor, dies nicht zur Durchsetzung vorher abgestimmter politischer Ziele zu tun. Sie skandierten vielmehr „Wir wollen diskutieren“.

„Diskutieren“ war das Fahnenwort der 68er-Bewegung. Diskutieren war gleichbedeutend mit dem Praktizieren von Demokratie. In einem Berliner Flugblatt mit dem Titel „Warum wir demonstrieren — Warum wir diskutieren“ formulierte eine Studentin: „eine demokratie funktioniert nicht durch verbote, sondern durch argumentation und gegenargumentation — auch, wenn diese anregungen von einer minderheit ausgehen.“ Das Politikverständnis, das in der Formel „Demokratie ist Diskussion“ sinnfälligen Ausdruck erhielt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Demokratische Entscheidungen erhalten ihre Legitimität allein aus der Ratio des besseren Arguments, der sich eine ggf. irrende Mehrheit unterwerfen muss.



Ausschnitt aus einem diskussionskritischen Flugblatt der Kommune I



Das Go-in in die Sitzung des Abgeordnetenhauses Berlin zeigt zudem, dass die Parlamente in den Augen der 68er nicht der Ort waren, in denen sich das bessere Argument Geltung verschaffen konnte. Die außerparlamentarische und in weiten Teilen auch antiparlamentarische Bewegung setzte vielmehr auf nicht-repräsentative Formen diskursiver Meinungsbildung, etwa das Teach-in. Das Teach-in war eine Form der politischen Massendiskussion, die ohne Beschränkung der Teilnahme und des Rederechts auskommen wollte und in der nicht der Diskussionsleiter, sondern alle Teilnehmer demokratisch über Inhalte und Verfahrensfragen entscheiden sollten.

Diskutieren innerhalb der Bewegung repräsentierte einen hierarchiefreien, egalitären Umgang zwischen den Gesprächspartnern und versprach Erkenntnisgewinn. Diskussionen mit den politischen Gegnern wurden eingefordert, um deren mangelndes Demokrativerständnis zu entlarven. Natürlich waren im einleitenden Beispiel die Berliner Parlamentarier nicht bereit, mit den Protestierenden im Rahmen einer Abgeordnetenhaussitzung zu diskutieren, was die Aktivisten als Beleg ihrer undemokratischen Haltung und der in ihren Augen völlig ungenügendenden Partizipationsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie denunzieren konnten. Diskussion forderten die Aktivistinnen und Aktivisten überall dort ein, wo Autorität oder Tradition in ihren Augen größeres Gewicht hatten als das bessere Argument:

  • In Vorlesungen und Seminare, in denen Wissen ex cathedra verkündet und nicht diskursiv verhandelt wurde.
  • Bei Immatrikulationsfeiern, in denen die Ordinarien die Hochschule feierten, Studenten aber kein Rederecht hatten.
  • In Parlamentssitzungen, in denen über, aber nicht mit den Aktivisten debattiert wurde.
  • In Gottesdiensten, in denen zwar Frieden gepredigt wurde, die Gräuel des Vietnamkrieges aber unerwähnt blieben.
  • In Gerichtsverhandlungen, in denen von Angeklagten unter Androhung von Strafe die totale Unterordnung in die in Gerichten geltenden Verhaltensnormen verlangt wurden.

Selten wurde die Forderung freilich erfüllt und so entstanden kritische Ereignisse, die erheblich zur Mobilisierung und Radikalisierung der Bewegung beitrugen.

Diskutieren im Sinne einer argumentativen und kontroversen Aussprache wurde von den Aktivisten zu einer Praxis erhoben, deren Symbolwert mindestens so groß war wie ihre kommunikative Funktion. Allein der formale Vollzug der Aussprache erfüllte bereits einen Zweck. Diskutieren war damit (auch) ein Ritual, über das sich die Protestbewegung definierte, ein Ritual durch das sie sich von den Etablierten zu unterscheiden glaubte, ein Ritual, das mobilisierte und integrierte.


DIE GRÜNEN

Auch als DIE GRÜNEN 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, sorgten sie nicht nur wegen ihrer politischen Inhalte für Aufsehen, sondern auch wegen der Formen ihrer politischen Kommunikation. Zur konstituierenden Sitzung des 10. Bundestages am 29. März 1983 zogen die Abgeordneten — einem Demonstrationszug gleich — vom Bonner Hofgarten ins Regierungsviertel und ließen sich dabei symbolisch von der Basis begleiten. In ihrem Selbstverständnis war die Partei nämlich lediglich ein Ast des mächtigen Baumes der neuen sozialen Bewegungen, der in die Parlamente hineinwuchern sollte. In der Präambel des Bundesprogramms von 1980 heißt es: „Wir halten es für notwendig, die Aktivitäten außerhalb des Parlaments durch die Arbeit in den Kommunal- und Landesparlamenten sowie im Bundestag zu ergänzen. […] Wir werden damit den Bürger- und Basisinitiativen eine weitere Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Anliegen und Ideen eröffnen.“

Die Grünen inszenierten sich als „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) und waren ihrem Selbstverständnis nach „die Alternative zu den herkömmlichen Parteien“ (Präambel des Bundesprogramms von 1980). Der Antiparlamentarismus speiste sich aus der Kritik an einer politischen Klasse, die den Interessen von Wirtschaft und Kapital diente, an einem Repräsentationsprinzip, das die Abgeordneten nicht auf den Willen der Volkes verpflichtete, und an einer Professionalisierung der Politik, die die Durchsetzung neuer Ideen verhinderte. Um eine Korrumpierung der eigenen Abgeordneten durch das parlamentarische System zu verhindern, fassten die Grünen im Januar 1983 die sog. Sindelfinger Beschlüsse. Demnach sollten die Abgeordneten ihr Mandat nur zwei Jahre wahrnehmen und dann für ihre Nachfolger Platz machen (Rotationsprinzip), in ihrem Abstimmungsverhalten und in ihrer sonstigen parlamentarischen Tätigkeit an die Beschlüsse der Basis gebunden sein (imperatives Mandat) und nur so viel verdienen wie ein Facharbeiter (Diätenbegrenzung). Daneben beschlossen die Grünen auch eine Trennung von Parteiamt und Mandat, um eine Machtkonzentration auf wenige Personen zu verhindern.

Auch in kommuniktiver Hinsicht setzten die Grünen alles daran, sich als basisdemokratische Partei zu inszenieren. Sie benannten keine Spitzenkandidaten für Wahlen, druckten keine Köpfe auf Wahlplakate, und gaben der Partei auf Bundes- und Länderebene kollektive Führungen aus zunächst je drei Vorsitzenden, die jedoch den Titel „Sprecher“ führten, um zu betonen, dass diese eigentlich keine Macht besäßen, sondern nur die Beschlüsse der Basis nach außen kommunizierten.

Die Grünen verschrieben sich zudem dem Prinzip der Transparenz: Statt Delegiertenversammlungen sollten ausschließlich Mitgliederversammlungen abgehalten werden; die „Mitgliederoffenheit der Sitzungen und Gremien auf allen Ebenen“ ist im Bundesprogramm 1980 festgeschrieben. Zudem sollten die Versammlungen der Grünen nicht nur den Mitgliedern, sondern allen interessierten Menschen offen stehen. Auch die ersten Fraktionssitzungen der Grünen im Bundestag waren öffentlich. Neben zahlreichen Pressevertretern nahmen auch die Nachrücker, Fraktionsmitarbeiter und Vertreter der Basis an den Sitzungen teil, die in der Anfangszeit nicht selten 10 bis 15 Stunden dauerten.

Und sie bedienten sich selbstverständlich weiterhin aktionistischer Formen der Politik. Zur konstitutierenden Sitzung des 10. Bundestages zog einer „eine spindeldürre, nadellose Fichte hinter sich her. Zwei andere rollten eine überdimensionale Weltkugel. Viele trugen Blumen.“ erinnert sich Ludger Vollmer in seinem Buch „DIE GRÜNEN. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei — Eine Bilanz“ (2009) an die Prozession ins Regierungsviertel. Am 15. Juli 1983 setzten sich Petra Kelly und Gert Bastian zusammen mit Wolf Biermann in einen Käfig und ketteten sich an den Zaun des Bundeskanzleramts, um gegen die Auslieferung eines Kurden an die Türkei zu demonstrieren.

Auch die Grünen benutzten also neue Kommunikationsformen und kommunikative Rituale, um ihre Identität als basisdemokratische Anti-Parteien-Partei und als parlamentarischer Ausleger der neuen sozialen Bewegungen zu symbolisieren. Die öffentlichkeitswirksamen Inszenierungen und Provokationen bescherten ihnen Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit.

Den neuen Kommunikationsformen der 68er und der Grünen wohnte ein utopisches Moment inne: sie schienen das Versprechen zu geben, dass eine qualitativ andere Demokratie möglich ist. Eine Demokratie, die dem besseren Argument verpflichtet ist, die allen Menschen Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen ermöglicht und in der die Entscheidungsfindung sich transparent vollzieht.


Und die Piraten

Wirft man einen Blick auf die Anfänge der Grünen, dann erscheint die Piratenpartei nur noch wenig originell. Vorsitzende, die sich als Sprecher verstehen und sich an die Voten der Basis gebunden fühlen, die Verpflichtung der Mandatsträger auf den Willen der Basis, öffentliche Fraktionssitzungen, Transparenzversprechen und öffentlich ausgetragene Streitigkeiten — das alles gab es schon bei den Grünen und sogar radikaler als bei den Piraten heute.

Dennoch verkörpert auch die Piratenpartei die Utopie einer anderen Demokratie. Und zwar weniger durch ihr politisches Programm als vielmehr durch die Formen der innerparteilichen Kommunikation und Entscheidungsfindung. Mit neuen technischen Mitteln wird der Versuch unternommen „Entscheidungen nicht im Rahmen von Vertreterversammlungen zu treffen, sondern einen basisdemokratischen Ansatz auch bei steigenden Mitgliederzahlen umsetzen zu können“, wie es im Piratenwiki zum Schlagwort Liquid Democray heißt. Dabei wird das Prinzip der Basisdemokratie um die Möglichkeit der Delegation der eigenen Stimme für bestimmte Themen oder Politikfelder ergänzt. Auch die Piratenpartei versucht die Utopie einer direkten Demokratie (Möglichkeit der Beteiligung aller Mitglieder an der Entscheidungsfindung) zu verwirklichen und setzt darauf, dass sich in Systemen wie LiquidFeedback Kompetenz (delegated voting) und der besser argumentierende Antrag Geltung verschaffen werden. Die innerparteiliche Kommunikation soll am Ende ein Modell für die Demokratie als Ganze sein.

68er, Grüne und Piraten haben in ihrer jeweiligen Zeit Kommunikationsformen besetzt und zu ihrem Markenzeichen gemacht, die Ausdruck eines alternativen Demokratieverständnisses waren, das gemessen an der Realität der parlamentarischen Demokratie durchaus als utopisch gelten kann. Es ist dieser durch die alternativen Kommunikationsformen symbolisierte Anspruch, der den neuen Bewegungen und Parteien ihr Charisma verlieh und verleiht und den neugegründeten Parteien eine so schnelle Mobilisierung von Wählern ermöglichte.

Freilich: Debatten mit den politischen Gegnern waren in den späten 60er und frühen 70er Jahren selten herrschaftsfreie rationale Diskussionen, sondern hatten häufig Tribunalcharakter. Und die Grünen haben Rotation, imperatives Mandat und öffentliche Fraktionssitzungen schnell wieder abgeschafft. Auch LiquidFeedback ist bei den Piraten längst keine allgegenwärtige Plattform zur politischen Meinungsbildung. Und dennoch: Der Anspruch ist symbolisch formuliert, das Versprechen, alles besser machen zu wollen, ist gegeben. Ob es gehalten wird, das wird die Zukunft zeigen. Das Symbol aber wirkt schon in der Gegenwart.