„Experten“ in den Medien: schätzen, prognostizieren, warnen

Posted on 19th April 2013 in Kollokationen, Wortschatz

Liebe Freunde der Sicherheit,

Experten begegnen uns in vielerlei Gestalt in allen Gazetten und auf allen Kanälen. Vom Finanzexperten, der uns treffsicher Auswege aus Finanzkrise weist, über den Sicherheitsexperten, der zuverlässig bei jeder Gelegenheit die Vorratsdatenspeicherung fordert, bis hin zum Spezialexperten in Fefes Blog, der als Kompetenzbombe in jedem Wissensbereich einen Volltreffer landet.

Der Experte ist ein sprachliches Konstrukt, der schon durch den bloßen Akt der Zuschreibung von Expertentum zu dem wird, als der er in den Medien erscheint: zum Experten. Dabei ist das Wort „Experte“ äußerst produktiv. Mit ihm lassen sich Unmengen an Komposita, Wörter wie „US-Hinrichtungsexperte“, „Bundesbahn-Technikexperte“, „SPD-Spielbanken-Experte“, „Humorexperte“, „American-Express-Tarifexperte“ oder Klassiker wie „Allround-Experten“, bilden. Die Journalisten von Spiegel-Print beispielsweise haben seit 1947 rund 6000 unterschiedliche Experten-Typen gekürt.

Der Siegeszug des Experten

Aber seit wann gibt es den Typus des „Experten“ eigentlich in den Medien? Vergleicht man die Frequenzentwicklung des Wortes „Experte“ im gedruckten Spiegel mit der von Bezeichnungen für in akademischen Kontexten tätigen Personen wie „Wissenschaftler / Wissenschaftlerin“, „Forscher / Forscherin“ und „Professor / Professorin“, dann wird offensichtlich, dass die 68er auch am Siegeszug des Expertentums Schuld sind:



Entwicklung der relativen Frequenz der Wörter "Forscher", "Experte", Wissenschaftler" und "Professor" je 100.000 Wörter im SPIEGEL (print)

Entwicklung der relativen Frequenz der Wörter „Forscher“, „Experte“,
Wissenschaftler“ und „Professor“ und Komposita je 100.000 Wörter im SPIEGEL (print)



Nach 1968 steigt der Gebrauch des Wortes „Experte / Expertin“ und seiner Komposita sprunghaft an und verharrt dann relativ konstant auf hohem Niveau. Gleichzeitig geht der Gebrauch der Bezeichnung „Professorin / Professor“ im SPIEGEL nach 1968 dramatisch zurück, auch im Verhältnis zur Zeit vor der sogenannten Studentenrevolte, die natürlich ausführlich im SPIEGEL verhandelt wurde. Ein Trend übrigens, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Die Grafik zeigt auch, dass seit den 1980er Jahren die Bezeichnung „Forscher / Forscherin“ im journalistischen Trend liegt. So produktiv im Hinblick auf die Wortbildung wie das Wort „Experte“ ist aber keines der anderen Lemmata:



Entwicklung der Frequenz der Komposita (Types), die mit den Wörter "Experte", "Forscher", "Wissenschaftler" und "Professor" gebildet wurden im SPIEGEL (print) von 1947-2010.

Entwicklung der Frequenz der Komposita (Types), die mit den Wörtern
„Experte“, „Forscher“, „Wissenschaftler“ und „Professor“ gebildet wurden
im SPIEGEL (print) von 1947-2010.



Die Grafik zeigt, dass die größten Veränderungen in den Jahren nach 1968 zu beobachten sind. Hier zeigt sich bei allen Bezeichnungen eine Vermehrung der Anzahl der Komposita, die mit ihnen gebildet wurden, was man als Ausdifferenzierung des Wortschatzes deuten kann. Doch nirgendwo war die Ausdifferenzierung so ausgeprägt wie bei Bezeichnungen für Experten. Die 20 am häufigsten im SPIEGEL auftretenden Experten sind:

  • Finanzexperte
  • Wirtschaftsexperte
  • Sicherheitsexperte
  • Militärexperte
  • Rechtsexperte
  • Verkehrsexperte
  • Haushaltsexperte
  • Ostexperte
  • Steuerexperte
  • US-Experte
  • Wehrexperte
  • Sozialexperte
  • Umweltexperte
  • Deutschland-Experte
  • Agrarexperte
  • Bildungsexperte
  • Computerexperte
  • Rüstungsexperte
  • Kunstexperte
  • Währungsexperte

Warum 1968?

Die Jahre um 1968 waren eine Zeit, in der Autoritäten überall in der Gesellschaft in Frage gestellt wurden. Natürlich und besonders auch das akademische „Establishment“. Hinzu kam, dass der epistemologische Konsens wegen der Politisierung der Universitäten aufgekündigt wurde: Teile der Wissenschaften wurden pauschal als „bürgerlich“ verunglimpft. Die Konsequenz war, dass der Konflikt zwischen einer „bürgerlichen“ und einer „marxistischen“ bzw. „kritisch-dialektischen“ Wissenschaftsauffassung für die Öffentlichkeit die weltanschaulich-ideologischen Implikationen wissenschaftlicher Erkenntnisse sichtbar machte und damit die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse relativierte. Der Experte könnte demnach als diskursives Gegengewicht zu vermeintlich „bürgerlichen“ Wissenschaftlern, aber auch als Ergebnis eines allgemeinen Autoritätsverlustes wissenschaftlicher Evidenzkonstruktionen gedeutet werden.

Experten vs. Wissenschaftler

Natürlich werden auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Medien als „Experten“ bezeichnet. Dennoch zeigen sich klare Unterschiede in dem, welche Tätigkeiten Wissenschaftlern / Professorinnen / Forschern zugeschrieben werden. Im gedruckten SPIEGEL der letzten zehn Jahre zeigen sich beispielsweise folgende Muster:

Kollokationen zu den Lemmata "Forscher", "Experte", "Wissenschaftler", "Professor" im gedruckten SPIEGEL (2000-2010)

Kollokationen zu den Lemmata „Forscher“, „Experte“, „Wissenschaftler“, „Professor“
im gedruckten SPIEGEL (2000-2010)



Die Tätigkeiten, mit denen Experten üblicherweise assoziiert werden sind andere als bei Personen aus dem akademischen Umfeld. Während letztere „messen“, „untersuchen“, „herausfinden“, „entschlüsseln“, „ergründen“, „entdecken“, „nachweisen“, „entwickeln“ und eben „erforschen“, treten Experten mit den Verben „schätzen“, „prognostizieren“, „warnen“, „fürchten“, „bezweifeln“ oder „empfehlen“. Der Experte kommt also immer dann ins Spiel, wenn Wissen als unsicher dargestellt, bewertet und Orientierung aus ihm abgeleitet werden soll. Die Expertise des Experten liegt also nicht im Bereich der Wissensproduktion oder Wissenssicherung, sondern im Bereich der Interpretation von Wissen und der Formulierung von Meinungen, wie mit diesem Wissen umgegangen werden soll. In Wörterbüchern freilich wird „Experte“ als Sachverständiger, Fachmann oder Kenner definiert. Es ist die Spannung zwischen vermeintlich objektiver Sachkenntnis und interessegeleiteter Meinungsproduktion, die die Bezeichnung „Experte“ in den Augen vieler fragwürdig gemacht hat.


Herzlich grüßt euer Sprachexperte Joachim Scharloth


Rederepublik Deutschland: Sind die Online-Medien schuld?

Posted on 14th September 2012 in Linguistische Kategorien, Off Topic, Wortschatz

Sprache konstruiert Wirklichkeit. Dies gilt auch für die Sprache, wie sie in der Politik verwendet wird, vielleicht sogar in besonderem Maße. Denn Politikerinnen und Politiker benutzen die wirklichkeitskonstruierende Kraft der Sprache bewusst für ihre politische Agenda. Ob man vom „Betreuungsgeld“ (Regierung) oder der „Herdprämie“ (Opposition), von der „Kopfpauschale“ (SPD, Grüne, Linke) oder dem „solidarischen Bürgergeld“ (CDU/CSU) spricht, jeweils wird der Gegenstand, über den man spricht, in anderer Weise konstruiert und bewertet. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass es nicht einmal mehr derselbe Gegenstand ist, den man von unterschiedlichen Perspektiven durch das Medium der Sprache erfasst, sondern dass durch die unterschiedlichen Bezeichnungen unterschiedliche Gegenstände konstruiert werden. Was Politiker sagen und wie sie es tun, ist also durchaus von Bedeutung für das Verständnis politischer Prozesse.

Auch bei unseren Leitmedien scheint sich diese Erkenntnis durchgesetzt zu haben. In allen Gazetten schreiben Journalistinnen und Journalisten darüber, was Menschen darüber sagen, was andere, mutmaßlich noch wichtigere, Menschen geäußert haben. War das schon immer so? Oder ist das eine Folge des Online-Journalismus mit seiner auf Aktualität getrimmten Kultur, in der jede Äußerung schon eine Meldung wert ist, ohne in größere Nachrichtenzusammenhänge eingebettet zu werden?

Um diese Frage zu beantworten, habe ich mir die Entwicklung der Frequenz von rund 240 Sprachhandlungs- und Kommunikationsverben in drei Textarchiven angeschaut: dem Printarchiv von Spiegel und ZEIT (1947 bis 2010) und dem Archiv von Spiegel Online (2000 bis 2010). Für jeden Artikel habe ich die Frequenz von Kommunikationsverben relativ zur Anzahl der Wörter berechnet, anschließend habe ich den Durchschnitt über alle Artikel eines Jahres gebildet.

Die folgende Abbildung zeigt, dass die Zunahme des Gebrauchs von Kommunikationsverben kein neues Phänomen ist. Schon seit den 1970er Jahren steigt ihr Gebrauch allmählich an. Parallel zu den Anfängen des Online-Journalismus in den 1990er Jahren verstärkt sich jedoch dieser Anstieg. Anders als vermutet, ist die Frequenz bei Spiegel Online auf den ersten Blick nicht dramatisch höher als bei den Print-Medien. (Lesehilfe: Eine relative Frequenz von 0.02 bedeutet, dass jedes 50. Wort ein Kommunikationsverb ist.)





Die Aggregierung der Daten aus allen Ressorts gibt jedoch nur einen recht groben Eindruck. Die ressortspezifische Verteilung von Kommunikationsverben, insbesondere in den Ressorts, die zum Kerngeschäft des Qualitätsjournalismus gehören, erlaubt eine differenziertere Antwort auf die eingangs gestellte Frage. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der relativen Frequenzen in den Ressorts Deutschland (Spiegel Print), Politik Deutschland (Spiegel Online) und Politik (ZEIT Print; die ZEIT differenziert in ihrer Ressortzuschreibung leider nicht zwischen Innen- und Außenpolitik, weshalb ihre Zahlen nur bedingt mit denen des Spiegel vergleichbar sind).





Es zeigt sich auch hier, dass die Zunahme des Schreibens über das, was andere in der politischen Arena gesagt oder geschrieben haben, kein neues Phänomen ist. Doch ist der Unterschied im Gebrauch von Kommunikationsverben zwischen Print- und Online-Medien hier sehr groß. Interessanterweise ist bei Spiegel Online kein Anstieg der Frequenz zu beobachten. Dies bestätigt sich auch beim Blick auf das Ressort Außenpolitik (für die ZEIT hier wieder die Werte aus dem Ressort Politik).





Auch hier verharren die Zahlen bei SPON auf hohem Niveau, die Printmedien nähern sich dem Online-Medium an. Am stärksten hat die relative Frequenz von Kommunikationsverben jedoch in einem anderen Ressort zugenommen: im Ressort Wirtschaft. Auch hier überlagern offenbar zunehmend Berichte über Gesagtes die Berichterstattung zu messbaren Zusammenhängen, bzw. wird die Präsentation von Fakten an deren Verkündigung gekoppelt.





Man müsste das genauer untersuchen, aber als vorläufiges Fazit lässt sich ziehen: Die Personalisierung von Informationen und die Wiedergabe von Aussagen und Meinungen ist eine immer stärkere werdende Tendenz, die durch die Logik der Online-Medien nicht verursacht, aber verstärkt wurde.

Natürlich sind auch Kommunikationsverben dem Wandel der Moden unterworfen. Im gedruckten Spiegel habe ich mal durchgerechnet, welche Kommunikationsverben für die jeweiligen Jahrzehnte typisch sind (alle signifikant, geordnet nach Frequenzfaktor):



2000er: telefonieren, nerven, mitbekommen, prognostizieren, nachfragen, sagen, mitverfolgen, wetten, lachen, bereuen, mitlesen, reden, nachdenken, kapieren, weinen, bewerten, beten, verklagen, streiten, kritisieren, meckern


1990er: petzen, telefonieren, nerven, kapieren, prognostizieren, mitverfolgen, heucheln, maulen, verfluchen, klagen, meckern, ahnen, drohen, beteuern, warnen, jammern, spekulieren, streiten, beschreiben, bereuen, hetzen, suggerieren


1980er: kritteln, mitverfolgen, denunzieren, anprangern, meinen, petzen, differenzieren, beklagen, bejahen, verhehlen, ermutigen, akzeptieren, beschreiben, nachdenken, bemitleiden, postulieren, bedauern, wiederholen, unterstellen, beteuern


1970er: kritteln, postulieren, bejahen, differenzieren, negieren, geloben, erhoffen, konstatieren, prophezeien, beurteilen, empfehlen, verwahren, verneinen, ermuntern, mitlesen, scheuen, voraussehen, monieren, widerlegen, schildern, vermuten, bezweifeln, denunzieren, diskutieren


1960er: gedenken, befehlen, bejahen, gestatten, bemitleiden, konstatieren, verwahren, verneinen, ermahnen, verhehlen, verbitten, bitten, verabscheuen, widerlegen, antworten, bedauern, empfehlen, geloben, bedenken, ermuntern, unterstellen, feststellen, verraten


1950er: gestatten, gedenken, feststellen, vorschlagen, verneinen, ablehnen, kommentieren, antworten, tippen, befehlen, schreiben, bitten, bedauern, bekennen, verabscheuen, verhehlen, beweisen, versichern, beleidigen, bejahen, nachweisen, verbitten


1940er: tippen, singen, betonen, schreiben, sprechen, verbieten, befehlen, bedauern, gratulieren, antworten, feststellen, nennen, gedenken, schreien, staunen, verklagen, lachen, verurteilen, verabscheuen, ablehnen, wetten, verzeihen, verwahren, kommentieren, bereuen, bekennen


Zuletzt noch ein Schmankerl: Weil alle immer auf das Panorama-Ressort von SPON eindreschen, zum Schluss noch ein Vergleich zwischen den Panorama-Ressorts von Spiegel Online und Spiegel Print („Panorama“ bis 1986, ab 1987 Ressort „Gesellschaft“).






So schlimm ist es also gar nicht mit dem Online-Journalismus. Dazu demnächst mehr auf diesem Blog.

Interview zum Thema „Protest, Medien, Gewalt und Staat“

Posted on 21st März 2012 in Politik

Vor einiger Zeit habe ich Manuela Frey vom Magazin prisma, das von Studierenden der Universität St. Gallen (HSG) gemacht wird, ein Interview zum Thema „Protest, Medien, Gewalt und Staat“ gegeben. Den Text gebe ich hier wieder. Im Kontext kann man das Interview hier lesen. Das ganze Heft kann man auch als PDF herunterladen.


Herr Scharloth, was ist Protest?

Öffentliche Äusserung von Dissens.

Haben sich Protestformen seit 1945 stark verändert? Oder wird das soziologische Phänomen des Protests im Grunde immer ähnlich bleiben?

Ich denke nicht, dass wir von starken Veränderungen sprechen können. Eher von einer Ausdifferenzierung und Professionalisierung. Zudem hat es das Internet, das alle Teilnehmer zu potenziellen Sendern macht, leichter gemacht Protest zu organisieren und zu artikulieren. Ob der Protest ähnlich bleiben wird, hängt nicht vom Protest alleine ab. Protest ist immer bezogen auf die politischen und sozialen Verhältnisse und auf die Strukturen der Öffentlichkeit. Wenn sich hier etwas fundamental ändert, dann ändert sich auch der Protest.

Medien (Pressefreiheit) und Proteste (Versammlungs- und Meinungsfreiheit) sind oft genannte Grundpfeiler einer Demokratie. Wie hängen diese zwei Pfeiler zusammen?

Protest braucht Medien, um für ein Thema möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzeugen. Daher sind Protestbewegungen darum bemüht, Ereignisse zu inszenieren, die in die Medienlogik passen und einen Nachrichtenwert haben. Solche Ereignisinszenierungen im Medienformat sind ein Zeichen für die Professionalisierung des Protests. Andererseits transformieren die Medien die Botschaften, um sie für ihr spezifisches Publikum interessant und konsumierbar zu machen. Daher gehört es zur Medienpolitik von Protestbewegungen auch, dass sie sich eigene Medien schaffen, seien es Live-Streams von Protestereignissen, Flugblätter oder Webseiten. Interessant erscheint mir vor diesem Hintergrund die Frage der begrenzten Regelverletzung und noch mehr der Gewalt. Medien berichten nämlich bevorzugt dann von Protesten, wenn es in ihrem Rahmen zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei oder zu nennenswerten Sachbeschädigungen gekommen ist. Der Wunsch der Medien (und ihrer Konsumentinnen und Konsumenten) nach Skandalisierbarem und das Aktionsrepertoire von Protestbewegungen beeinflussen sich hier gegenseitig. Ich kenne Aktivisten, die deshalb auch stillschweigend Aktionen des Schwarzen Blocks billigen, auch wenn sie sich offiziell von Gewalt distanzieren.

Welche Rolle hat also Gewalt für Protestbewegungen?

Gewalt schafft natürlich auch kritische Ereignisse, durch die Bewegungen eine Identität bekommen oder sich radikalisieren können. Denken Sie an die so genannten Globuskrawalle, die die Situation in Zürich 1968 komplett veränderten, an den Tod von Benno Ohnesorg 1967 in Berlin, der ein Wendepunkt für die 68er-Bewegung in Deutschland war, oder an den Tod von Carlo Giuliani während des G8-Gipfels 2001 in Genua.

Interessant ist aber auch eine andere Frage: Welche Rolle spielt die Gewalt in sozialen Bewegungen für den Staat?

Zu den nichtintendierten Effekten von Protestbewegungen gehört, dass sie dazu geführt haben, dass Polizei und Nachrichtendienste aufgerüstet haben. Denken Sie an die Anschaffung von Wasserwerfern in Folge der Proteste der 68er oder die Ausstattung der Polizei mit Gummigeschossen im Zuge der Jugendunruhen in den frühen 1980ern. Gewaltsamer Protest kann daher von staatlicher Stelle durchaus gewünscht sein, um in einer Güterabwägung Einschränkungen von Grundrechten zu rechtfertigen. Daher gibt es auch immer wieder Gerüchte über Agents Provocateurs, die sich wie im Fall der 68er-Bewegung in der BRD teilweise als wahr erwiesen haben.

Kann man im Zusammenhang mit dem Internet und Social/New Media von einer „Verbequemlichung“ des Protests sprechen?

Es lässt sich ja heutzutage von der Couch aus eine Onlinepetition ausfüllen oder seine Meinung auf Facebook oder Twitter massenwirksam kundtun. Die Hürde, Protest zu artikulieren, ist dadurch sicher kleiner geworden. Aber Ihre Frage klingt so, als müsse es mit grosser Anstrengung verbunden sein, Kritik öffentlich zu äussern, damit sie glaubhaft ist. Der Punkt ist hier: Es mag leichter geworden sein, Dissens zu artikulieren. Aber weil so viele die Möglichkeit haben, sich zu allem Möglichen zu äussern, ist es auch viel schwieriger, Aufmerksamkeit dafür zu erzeugen. Eine einzelne Äusserung auf Twitter oder Facebook interessiert doch nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen und wird im Strom der anderen Meldungen davongespült. Damit Aufmerksamkeit im Netz entstehen kann, müssen viele Menschen etwas Ähnliches tun. Und das zu organisieren und zu orchestrieren, ist wieder eine Menge Arbeit und Engagement von vielen Einzelnen.

Glauben Sie, dass der Arabische Frühling auch ohne die Hilfe von Twitter, Facebook und Co. in der Form stattgefunden hätte?

Zum Arabischen Frühling: Ehrlich gesagt — keine Ahnung. Da gibt es solche und solche Meinungen. Interessant finde ich eher, dass das Internet und die sozialen Medien in den letzten Jahren selbst zum Politikum geworden sind. Das ist im Grunde nicht neu: Auch früher haben sich Proteste gegen Medien gerichtet, denken Sie an die Anti-Springer-Kampagne der deutschen 68er-Bewegung. Aber die Situation ist heute natürlich eine andere: Facebook und Twitter stellen selbst keine Inhalte zur Verfügung und haben eher das Image, eine Plattform zu sein, auf der jeder seine Meinung frei äussern kann. Einerseits wegen der Erfahrungen im Arabischen Frühling (Internetabschaltungen, Sperrung sozialer Netzwerke), aber auch wegen ihres Datenhungers und der Gerüchte über Backdoors für amerikanische Sicherheitsbehörden hat die Reflexion darüber begonnen, was es bedeutet, dass kritische Öffentlichkeit über die Plattformen und Server von weltweit sehr wenigen privaten Unternehmen hergestellt wird. Die Strukturen des Internets sind daher selbst zum Thema einer Protestbewegung geworden. In ihrer Folge wird sich meiner Meinung nach die Bewegung hin zu dezentralen sozialen Netzwerken, die sich Abschaltung, Zensur und staatlicher Überwachung weitgehend entziehen, verstärken.

Wie wird ein Protest in 50 Jahren aussehen?

Warten wir’s ab!


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