„Experten“ in den Medien: schätzen, prognostizieren, warnen

Posted on 19th April 2013 in Kollokationen, Wortschatz

Liebe Freunde der Sicherheit,

Experten begegnen uns in vielerlei Gestalt in allen Gazetten und auf allen Kanälen. Vom Finanzexperten, der uns treffsicher Auswege aus Finanzkrise weist, über den Sicherheitsexperten, der zuverlässig bei jeder Gelegenheit die Vorratsdatenspeicherung fordert, bis hin zum Spezialexperten in Fefes Blog, der als Kompetenzbombe in jedem Wissensbereich einen Volltreffer landet.

Der Experte ist ein sprachliches Konstrukt, der schon durch den bloßen Akt der Zuschreibung von Expertentum zu dem wird, als der er in den Medien erscheint: zum Experten. Dabei ist das Wort „Experte“ äußerst produktiv. Mit ihm lassen sich Unmengen an Komposita, Wörter wie „US-Hinrichtungsexperte“, „Bundesbahn-Technikexperte“, „SPD-Spielbanken-Experte“, „Humorexperte“, „American-Express-Tarifexperte“ oder Klassiker wie „Allround-Experten“, bilden. Die Journalisten von Spiegel-Print beispielsweise haben seit 1947 rund 6000 unterschiedliche Experten-Typen gekürt.

Der Siegeszug des Experten

Aber seit wann gibt es den Typus des „Experten“ eigentlich in den Medien? Vergleicht man die Frequenzentwicklung des Wortes „Experte“ im gedruckten Spiegel mit der von Bezeichnungen für in akademischen Kontexten tätigen Personen wie „Wissenschaftler / Wissenschaftlerin“, „Forscher / Forscherin“ und „Professor / Professorin“, dann wird offensichtlich, dass die 68er auch am Siegeszug des Expertentums Schuld sind:



Entwicklung der relativen Frequenz der Wörter "Forscher", "Experte", Wissenschaftler" und "Professor" je 100.000 Wörter im SPIEGEL (print)

Entwicklung der relativen Frequenz der Wörter „Forscher“, „Experte“,
Wissenschaftler“ und „Professor“ und Komposita je 100.000 Wörter im SPIEGEL (print)



Nach 1968 steigt der Gebrauch des Wortes „Experte / Expertin“ und seiner Komposita sprunghaft an und verharrt dann relativ konstant auf hohem Niveau. Gleichzeitig geht der Gebrauch der Bezeichnung „Professorin / Professor“ im SPIEGEL nach 1968 dramatisch zurück, auch im Verhältnis zur Zeit vor der sogenannten Studentenrevolte, die natürlich ausführlich im SPIEGEL verhandelt wurde. Ein Trend übrigens, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Die Grafik zeigt auch, dass seit den 1980er Jahren die Bezeichnung „Forscher / Forscherin“ im journalistischen Trend liegt. So produktiv im Hinblick auf die Wortbildung wie das Wort „Experte“ ist aber keines der anderen Lemmata:



Entwicklung der Frequenz der Komposita (Types), die mit den Wörter "Experte", "Forscher", "Wissenschaftler" und "Professor" gebildet wurden im SPIEGEL (print) von 1947-2010.

Entwicklung der Frequenz der Komposita (Types), die mit den Wörtern
„Experte“, „Forscher“, „Wissenschaftler“ und „Professor“ gebildet wurden
im SPIEGEL (print) von 1947-2010.



Die Grafik zeigt, dass die größten Veränderungen in den Jahren nach 1968 zu beobachten sind. Hier zeigt sich bei allen Bezeichnungen eine Vermehrung der Anzahl der Komposita, die mit ihnen gebildet wurden, was man als Ausdifferenzierung des Wortschatzes deuten kann. Doch nirgendwo war die Ausdifferenzierung so ausgeprägt wie bei Bezeichnungen für Experten. Die 20 am häufigsten im SPIEGEL auftretenden Experten sind:

  • Finanzexperte
  • Wirtschaftsexperte
  • Sicherheitsexperte
  • Militärexperte
  • Rechtsexperte
  • Verkehrsexperte
  • Haushaltsexperte
  • Ostexperte
  • Steuerexperte
  • US-Experte
  • Wehrexperte
  • Sozialexperte
  • Umweltexperte
  • Deutschland-Experte
  • Agrarexperte
  • Bildungsexperte
  • Computerexperte
  • Rüstungsexperte
  • Kunstexperte
  • Währungsexperte

Warum 1968?

Die Jahre um 1968 waren eine Zeit, in der Autoritäten überall in der Gesellschaft in Frage gestellt wurden. Natürlich und besonders auch das akademische „Establishment“. Hinzu kam, dass der epistemologische Konsens wegen der Politisierung der Universitäten aufgekündigt wurde: Teile der Wissenschaften wurden pauschal als „bürgerlich“ verunglimpft. Die Konsequenz war, dass der Konflikt zwischen einer „bürgerlichen“ und einer „marxistischen“ bzw. „kritisch-dialektischen“ Wissenschaftsauffassung für die Öffentlichkeit die weltanschaulich-ideologischen Implikationen wissenschaftlicher Erkenntnisse sichtbar machte und damit die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse relativierte. Der Experte könnte demnach als diskursives Gegengewicht zu vermeintlich „bürgerlichen“ Wissenschaftlern, aber auch als Ergebnis eines allgemeinen Autoritätsverlustes wissenschaftlicher Evidenzkonstruktionen gedeutet werden.

Experten vs. Wissenschaftler

Natürlich werden auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Medien als „Experten“ bezeichnet. Dennoch zeigen sich klare Unterschiede in dem, welche Tätigkeiten Wissenschaftlern / Professorinnen / Forschern zugeschrieben werden. Im gedruckten SPIEGEL der letzten zehn Jahre zeigen sich beispielsweise folgende Muster:

Kollokationen zu den Lemmata "Forscher", "Experte", "Wissenschaftler", "Professor" im gedruckten SPIEGEL (2000-2010)

Kollokationen zu den Lemmata „Forscher“, „Experte“, „Wissenschaftler“, „Professor“
im gedruckten SPIEGEL (2000-2010)



Die Tätigkeiten, mit denen Experten üblicherweise assoziiert werden sind andere als bei Personen aus dem akademischen Umfeld. Während letztere „messen“, „untersuchen“, „herausfinden“, „entschlüsseln“, „ergründen“, „entdecken“, „nachweisen“, „entwickeln“ und eben „erforschen“, treten Experten mit den Verben „schätzen“, „prognostizieren“, „warnen“, „fürchten“, „bezweifeln“ oder „empfehlen“. Der Experte kommt also immer dann ins Spiel, wenn Wissen als unsicher dargestellt, bewertet und Orientierung aus ihm abgeleitet werden soll. Die Expertise des Experten liegt also nicht im Bereich der Wissensproduktion oder Wissenssicherung, sondern im Bereich der Interpretation von Wissen und der Formulierung von Meinungen, wie mit diesem Wissen umgegangen werden soll. In Wörterbüchern freilich wird „Experte“ als Sachverständiger, Fachmann oder Kenner definiert. Es ist die Spannung zwischen vermeintlich objektiver Sachkenntnis und interessegeleiteter Meinungsproduktion, die die Bezeichnung „Experte“ in den Augen vieler fragwürdig gemacht hat.


Herzlich grüßt euer Sprachexperte Joachim Scharloth


Das Medienimage der Polizei im SPIEGEL

Posted on 8th Februar 2013 in Inhaltswörter, Kollokationen, Politik, Semantik

Liebe Freunde der Sicherheit,

Anfang der Woche war ich bei einer Polizei-Tagung der Evanglischen Akademie Hofgeismar zum Thema „Demokratie auf der Straße -‚Gutbürger trifft Gutpolizisten'“ eingeladen, um über das Medienimage der Polizei zu sprechen. Eine interessante Veranstaltung, bei der sich Aktivisten, Polizisten und Wissenschaftlerinnen in ungezwungener Atmosphäre begegnen und austauschen konnten. Bei meinem Vortrag zeigte sich, dass das Image der Polizei in den Medien nicht übereinstimmt mit dem Vertrauen, das ein großer Teil der Deutschen in die Insitution der Polizei hat. Denn in den Medien ist die Polizei der Prügelknabe — und dies in doppelter Hinsicht. Das habe ich versucht, am Beispiel des Spiegel (Print und SPON) zu illustrieren.

Allgemeine Frequenzentwicklung

Auch wenn jüngere Zeitgenossen glauben, die Polizei habe in den letzten Jahren wegen Stuttgart 21 und NSU-Desaster im Fokus der Berichterstattung gestanden, relativiert ein Blick auf die Verteilung der Lemmata „Polizei“, „Polizist“, „Polizeibeamter“ und „Ordnungshäter“ im Printarchiv des SPIEGEL diese Einschätzung.

Verteilung von Bezeichnungen für Polizisten im Print-Archiv des SPIEGEL

Verteilung von Bezeichnungen für Polizisten im Print-Archiv des SPIEGEL
Frequenz je 100.000 Wörter; auch bei allen folgenden Grafiken

Im langfristigen Trend geht die Berichterstattung über die Polizei zurück, auf Polizisten wird in etwa gleich häufig Bezug genommen. Auch wenn man sich die Berichterstattung über die Polizei auf Spiegel Online, Politik Inland, anschaut, zeigt sich, dass die Berichterstattung über die Polizei an einzelne Ereignisse gebunden ist und langfristig nicht zugenommen hat.

Entwicklung der Frequenz der Bezeichnungen von Polizei auf SPON (Politik, Inland)

Entwicklung der Frequenz der Bezeichnungen von Polizei auf SPON (Politik, Inland)

Interessant ist hier, dass die Berichterstattung über die Polizei nach der Eskalation in Stuttgart (im Graphen gelb markiert) von der Berichterstattung über die Castor-Transporte deutlich in den Schatten gestellt wird.

Wie wichtig die Protestbewegungen um 1968 für die Polizeiberichterstattung waren zeigt die folgende Grafik, die visualisiert, wie viele unterschiedliche Wörter mit dem Lexem „polizist“ pro Jahr im Spiegel gebildet wurden und wie häufig diese Komposita relativ zur Anzahl der Wörter benutzt wurden.

Komposita mit dem lexikalischen Morphem "polizist": Entwicklung von Token (linke Achse) und Types (rechte Achse)

Komposita mit dem lexikalischen Morphem „polizist“:
Entwicklung von Token (linke Achse) und Types (rechte Achse)

Es zeigt sich, dass die Ereignisse um 1968 die Ursache dafür waren, dass der polizeispezifische Wortschatz in den Medien sich ausdifferenziert hat.

Polizeiliche Mittel

Was wird zum Thema, wenn der SPIEGEL über die Polizei schreibt? Da sind zuallererst einmal polizeiliche Instrumente zur Manifestation des staatlichen Gewaltmonopols zu nennen, beispielsweise der Wasserwerfer:

Auch die Berichterstattung über Wasserwerfer hat Konjunktur

Konjunkturen der Berichterstattung über Wasserwerfer

Die Verlaufskurve reflektiert einige Höhepunkte der Protestgeschichte der BRD: die 68er-Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung und die Proteste gegen die Startbahn West in Frankfurt. Parallel zum Wasserwerfer entdeckte die Presse auch den Polizeiknüppel und den Schlagstock. Erich Duensings geflügeltes Wort vom „Leberwurst-Prinzip — in der Mitte hineinstechen und nach beiden Seiten ausdrücken“ als polizeiliche Taktik für die Auflösung der Demonstration anlässlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 und das Kommando „Knüppel frei“ sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen.

Ein beliebter Gegenstand der Berichterstattung um 1968: der Schlagstock

Ein beliebter Gegenstand der Berichterstattung um 1968: der Schlagstock

Die absoluten Maxima um 1968 sind auch ein Indikator dafür, dass Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz damals in dieser Dimension noch neu waren und die Polizei angesichts der Konfrontation mit Gewalt und Gegengewalt erst mit ihrer Aufrüstung begann. Eine Aufrüstung, die Ende der 1990er auch zur Aufnahme von Pfefferspray in das Repertoire der Einsatzmittel führte.

Der Einsatz von Pfefferspray wird zum Thema

Der Einsatz von Pfefferspray wird seit Ende der 1990er zum Thema im SPIEGEL


Polizeiliche Mittel

Insgesamt muss man aber festhalten, dass in den letzten Jahre deutlich seltener über Polizeieinsätze mit Schlagstock oder Wasserwerfereinsatz berichtet wurde. Auch Komposita, die Polizei in negativer Weise mit dem Einsatz von Gewalt in Verbindung bringen, nehmen im SPIEGEL tendenziell ab:

Frequenz des Lemmas "Polizeigewalt" im Printarchiv des SPIEGEL

Frequenz des Lemmas „Polizeigewalt“ im Printarchiv des SPIEGEL


Frequenz des Lemmas "Polizeiterror" im Printarchiv des SPIEGEL

Frequenz des Lemmas „Polizeiterror“ im Printarchiv des SPIEGEL

Daraus zu schließen, dass die Polizei nun in positivem Licht dargestellt wird, ist aber falsch. Wenn Spiegel Online über die Polizei berichtet, dann signifikant häufig im Kontakt des Einsatzes von Gewalt, wobei die Polizei sowohl Ziel als auch Quelle der Gewaltausübung ist. Und diese Verbindung bleibt in fast allen Jahrgängen von SPON und Spiegel print seit den 1960er Jahren stabil.

Kollokationen zum Lemma "Polizist" in Spiegel Online (Politik Inland) im Jahr 2011

Kollokationen zum Lemma „Polizist“ in Spiegel Online (Politik Inland) im Jahr 2011

Trotz ihres guten Images in der Bevölkerung wird die Polizei in Medien wie dem SPIEGEL also stereotyp mit dem Einsatz von Gewalt assoziiert. Umgekehrt gilt dies auch für Demonstranten, über die vorwiegend nur dann berichtet wird, wenn physische Gewalt im Spiel ist. Dass die Repräsentationslogik der Medien eine Legitimationsmöglichkeit für die Eskalation von Gewalt auf Demonstrationen bietet, liegt auf der Hand. Für die Polizei gilt: keine Presse ist gute Presse.


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DIE KLAU MICH SHOW – dOCUMENTA(13)

Posted on 25th Juni 2012 in Off Topic, Politik, Terrorismus

Liebe Freunde der Sicherheit,

ich war in den letzten Wochen leider sehr beschäftigt. Unter anderem damit, nach Kassel zur dOCUMENTA(13) zu reisen. Dort durfte ich als Gast an der KLAU MICH SHOW (Radicalism in society meets experiment on TV) teilnehmen, einem Projekt von Dora Garcia. Weitere Gäste waren Rainer Langhans (Kommune I usw.) und Jessica Miriam Zinn (Piratenpartei Berlin), Jan Mech spielte souverän den Talk- und Showmaster.

Es ging um Eigentum und Diebstahl, Hedonismus und Spaßguerilla, Körper und Vergeistigung, Politik und Utopie, 1968 und Piraten. (Über Letztere hatte ich ja schon einmal geblogt.) Das Video ist online:



DIE KLAU MICH SHOW, dOCUMENTA(13)

DIE KLAU MICH SHOW, dOCUMENTA(13), 22. Juni 2012, Screenshot



Der Titel der Show zitiert den Titel des Buches „Klau mich“ der Kommune I. Die Kommune I war eine „Lebensgemeinschaft junger Maoisten“, die 1967 bis 1969 durch medienwirksame Protestinszenierungen und einen ostentativ hedonistischen Lebensstil einen großen Einfluss auf die 68er-Bewegung hatte und viel Aufmerksamkeit provozierte. Eine ihrer Provokationen war ein Flugblatt, in dem sie anlässlich eines Kaufhausbrandes in Brüssel mit etlichen Toten fragte „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ Die Autorinnen und Autoren behaupteten, Anti-Vietnamkriegsaktivisten hätten das Feuer gelegt, um den „saturierten Bürgern“ zu vermitteln, wie sich das Leben in Vietnam anfühlt, um den Krieg vom anderen Ende der Welt in die westlichen Metropolen zu tragen. „Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk beim der Frühstückszeitung zu vergiessen“, heißt es im Flugblatt. „Ab heute geht sie in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidkabine an.“ Die Staatsanwaltschaft sah darin eine Anstiftung zur Brandstiftung und klagte Rainer Langhans und Fritz Teufel an. Es kam zu einem Prozess, den die beiden Kommunarden als Bühne für eine bis dahin nicht dagewesene Anti-Justiz-Show benutzten. Sie spielten virtuos auf der Klaviatur des Antiritualismus und brachten Richter, Staatsanwaltschaft und Zeugen mehrfach zur Verzweiflung. Den Prozessverlauf, die Einvernahmen und die Medienberichte rekonstruierten sie im Buch „Klau mich“.

In der Klau Mich Show am 22. Juni war Rainer Langhans zu Gast. Weil ich mich mit dem Prozess in meinem Buch „1968. Eine Kommunikationsgeschichte“ ausführlich beschäftigt habe und auch sonst viel zu viel über performative Praktiken als Medium des Protests geschrieben habe, wurde ich als Gast eingeladen. Weil Rainer Langhans keine Nostalgie-Show wollte, kam auch Jessica Miriam Zinn von der Piratenpartei Berlin als Gast.

Die Klau Mich Show hat ihre eigenen Rituale entwickelt: die Mitglieder des Theater Chaosium, die am Anfang über die Bühne auf die Plätze für das professionelle Publikum (Chor und Jury) gehen, die reißerische Ansage der Gäste, der kleine Dialog mit der Show-Stewardess Tabu oder die vom Theater Chaosium moderierten Übergänge, das bunte Finale. Beim Sehen von nur einer Folge erzeugen sie Irritationen, wie bei den Studierenden meines Semis, in Serie machen sie den Charme der Show aus. Anders als die Kommune I früher fügen sich in der Klau Mich Show die Gäste in die Rituale.

Ritualkritik und Antiritualismus waren nämlich wichtige Charakteristika der 68er-Bewegung. Durch Rituale nämlich aktualisieren Gemeinschaften ihre Ordnung und versichern sich ihrer Werte. Durch die performative Kraft der Rituale werden Identitäten konstruiert, durch sie erhalten sie den Anschein von Faktizität. Wer also die Gesellschaft und ihre Werte verändern will, der muss ihre Rituale kritisieren, verändern oder durch neue Rituale ersetzen.

Die 1960er Jahre waren die Zeit der Entdeckung des Performativen: in der Kunst wurde mit performativen Praktiken experimentiert, um dem Funktionieren von Zeichenprozessen nachzuspüren. Soziale Bewegungen nutzten Ritualstörungen und Antirituale, um unsichtbare gesellschaftliche Schranken bewusst zu machen und ihre Beseitigung im Hier und Jetzt vorwegzunehmen. So stilisierte Rudi Dutschke in der deutschen 68er-Bewegung die performative Regelverletzung zum Medium der Selbstaufklärung der Aktivisten und zum Schlüssel ihrer individuellen Veränderung. Aber auch die Wissenschaft theoretisierte nicht nur, sondern nutzte performative Praktien wie Krisenexperimente (Garfinkel), um grundlegende Organisationsprinzipien der menschlichen Interaktion aufzudecken. Auch das Nachspiele von Ritualen wurde in der performativen Ethnologie als Erkenntnisquelle benutzt.

Das erste Thema der Show war dann auch die Theatralität selbst und das vergemeinschaftende Potenzial von Ritualen. Showmaster-Darsteller und Moderator Jan Mech holte das Publikum auf die Bühne und ließ es wie Woof im Musical Hair „We are all one“ rufen. Diese Durchbrechung der vierten Wand der Guckkastenbühne war als ein Re-enactment der Vorgänge am Ende der Hair-Aufführungen in den späten 60ern und frühen 70er Jahren gedacht, wo die Zuschauer auf die Bühne kamen, um mitzutanzen.

Der Gegensatz von Zuschauer und Mitwirkendem, von Bühnenraum und Zuschauerraum, von realer Welt und Spiel wurde aber gleich wieder hergestellt, als die eingeladenen Gäste zu einer Ballade (sinnreich: Seeräuber, Brecht) auf die Bühne kamen. Rainer Langhans wurde zum Star gemacht, der erstmal ein Autogramm geben muss. Deshalb durfte er auch in der Mitte sitzen.

Dann ging es um die Nazivergangenheit und den Generationenkonflikt und um die Frage des Privateigentums, bei der sich Jessica Miriam Zinn im Namen der Piratenpartei wehrte, in einer Tradition mit den 68er gesehen zu werden. Implizit wurde dabei die Frage verhandelt, ob durch die 68er ein Wertewandel hin zu einer Auflösung des Eigentumsbegriffs eingesetzt hat, der die Piratenpartei erst ermöglichte; denn die Piratenpartei bezieht sich positiv auf die urheberrechts-/copyright-kritische Bewegung in Schweden, aus der heraus der BitTorrent-Tracker „The Pirate Bay“ und die schwedische „Piratpartiet“ entstanden sind.

Ob sich die Piratenpartei Deutschlands die 68er, speziell die Kommunebewegung, als Tradition aneignen will, ist letztlich eine politische Frage, denn die Aneignung von Traditionen sind Identitätsakte. Der Anspruch auf Transparenz und die Utopie einer tiefer gehenden Demokratie verbindet beide Bewegungen, wie ich an andere Stelle ausgeführt habe. Gleichzeitig würde sich die Piratenpartei aber wohl dem Verdacht ausgesetzt sehen, offen zu sein für Ideen wie die Abschaffung des Eigentums, die Aufgabe der Privatsphäre und einem Anspruch auf radikale Veränderung jedes Einzelnen und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei ist das Narrativ für die Verbindung von digitalem Aktivismus und 68er-Bewegung längst vorhanden: Der Chaos Computer Club wurde am 12. September 1981 in den Redaktionsräumen der taz gegründet — am Tisch der Kommune I.

Aber zurück zur Klau Mich Show: Theatral wurde es wieder, als der Körper in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt wird. Rainer Langhans vertritt seine These von der Vergeistigung der Kommune. Leider kam ich nicht dazu zu sagen, dass ich die Kommune für sehr körperlich halte, nicht nur wegen ihres ostentativen Hedonismus sondern auch wegen der bewussten Inszenierung ihrer Körper als nicht-, ja antifaschistisch. Haben sich die Grenzen des Anstands seit den 60er Jahren nicht nur im Hinblick auf das Eigentum, sondern auch im Hinblick auf den Körper verschoben? Dieser Frage wollte der Showmaster näher kommen, inderm er eine Zuschauerin bat, sich so weit zu entblößen, wie es ihrer Meinung nach Scham und Anstand zuließen. Als Jessica Miriam Zinn den Moderator aufforderte, es der Zuschauerin gleich zu tun, entkleidete auch er sich. Der performative Effekt seiner partiellen Nacktheit war jedoch ein diskursiver Kontrollverlust, der erst nach Wiederanlegen der Hose überwunden wurde.

So lieferte die Show selbst einen Beleg für die (de)konstruktive Kraft von (Anti-)Ritualen, mithin dafür, dass das Durchbrechen von Ritualen das Potenzial hat, Ordnung ins Wanken zu bringen. Die Klau Mich Show changiert wunderbar zwischen Ironie und Ernst, zwischen Anstand und Zumutung, zwischen Gespräch und Performance, zwischen Anspruch und Unterhaltung. Sie ist aber nichts von alledem. Sie ist ein Muss für alle dOCUMENTA-Besucher, die realen wie die virtuellen.

Noch ein paar persönliche Anmerkungen: Den Studierenden der Dokkyo sei noch einmal gesagt, dass ich nicht der Moderator bin und dass das Musical „Hair“ nicht wegen mir ein Leitmotiv der Show war. Ich habe die Performance des Theater Chaosium am Anfang nicht verstanden, fand den Kalauer aber sehr lustig. Einmal habe ich in die Kamera gewinkt, um die Studierenden zu grüßen. Ich habe ziemlich viel auf dem Drehstuhl herumgewackelt. Und ja, ich weiß, das Taschentuch…


Vorher war ich an der TU Dresden, wo ich ab 1.10. eine Professur für Angewandte Linguistik antreten werden, zu einem Vortrag zum Thema „Autorenidentifizierung und Autorschaftsverschleierung. Maschinelle Methoden in der forensischen Linguistik und Möglichkeiten ihrer Überlistung“. Aus diesem Anlasse gibt es demnächst wieder mehr Posts zu technischen Fragen.


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Kommunikationsformen und die Utopie von einer anderen Demokratie: Piraten, Grüne und 68er

Posted on 16th April 2012 in Off Topic, Politik

Wer nachhaltig für seine politischen Ziele mobilisieren will, der braucht Kommunikationsformen, die die Utopie von einer anderen Demokratie glaubhaft symbolisieren.


1968

Als am 15. September 1967 einige hundert junge Menschen versuchten, mit einem Go-in in die Sondersitzung des Abgeordnetenhauses Berlin im Schöneberger Rathaus einzudringen, gaben sie vor, dies nicht zur Durchsetzung vorher abgestimmter politischer Ziele zu tun. Sie skandierten vielmehr „Wir wollen diskutieren“.

„Diskutieren“ war das Fahnenwort der 68er-Bewegung. Diskutieren war gleichbedeutend mit dem Praktizieren von Demokratie. In einem Berliner Flugblatt mit dem Titel „Warum wir demonstrieren — Warum wir diskutieren“ formulierte eine Studentin: „eine demokratie funktioniert nicht durch verbote, sondern durch argumentation und gegenargumentation — auch, wenn diese anregungen von einer minderheit ausgehen.“ Das Politikverständnis, das in der Formel „Demokratie ist Diskussion“ sinnfälligen Ausdruck erhielt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Demokratische Entscheidungen erhalten ihre Legitimität allein aus der Ratio des besseren Arguments, der sich eine ggf. irrende Mehrheit unterwerfen muss.



Ausschnitt aus einem diskussionskritischen Flugblatt der Kommune I



Das Go-in in die Sitzung des Abgeordnetenhauses Berlin zeigt zudem, dass die Parlamente in den Augen der 68er nicht der Ort waren, in denen sich das bessere Argument Geltung verschaffen konnte. Die außerparlamentarische und in weiten Teilen auch antiparlamentarische Bewegung setzte vielmehr auf nicht-repräsentative Formen diskursiver Meinungsbildung, etwa das Teach-in. Das Teach-in war eine Form der politischen Massendiskussion, die ohne Beschränkung der Teilnahme und des Rederechts auskommen wollte und in der nicht der Diskussionsleiter, sondern alle Teilnehmer demokratisch über Inhalte und Verfahrensfragen entscheiden sollten.

Diskutieren innerhalb der Bewegung repräsentierte einen hierarchiefreien, egalitären Umgang zwischen den Gesprächspartnern und versprach Erkenntnisgewinn. Diskussionen mit den politischen Gegnern wurden eingefordert, um deren mangelndes Demokrativerständnis zu entlarven. Natürlich waren im einleitenden Beispiel die Berliner Parlamentarier nicht bereit, mit den Protestierenden im Rahmen einer Abgeordnetenhaussitzung zu diskutieren, was die Aktivisten als Beleg ihrer undemokratischen Haltung und der in ihren Augen völlig ungenügendenden Partizipationsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie denunzieren konnten. Diskussion forderten die Aktivistinnen und Aktivisten überall dort ein, wo Autorität oder Tradition in ihren Augen größeres Gewicht hatten als das bessere Argument:

  • In Vorlesungen und Seminare, in denen Wissen ex cathedra verkündet und nicht diskursiv verhandelt wurde.
  • Bei Immatrikulationsfeiern, in denen die Ordinarien die Hochschule feierten, Studenten aber kein Rederecht hatten.
  • In Parlamentssitzungen, in denen über, aber nicht mit den Aktivisten debattiert wurde.
  • In Gottesdiensten, in denen zwar Frieden gepredigt wurde, die Gräuel des Vietnamkrieges aber unerwähnt blieben.
  • In Gerichtsverhandlungen, in denen von Angeklagten unter Androhung von Strafe die totale Unterordnung in die in Gerichten geltenden Verhaltensnormen verlangt wurden.

Selten wurde die Forderung freilich erfüllt und so entstanden kritische Ereignisse, die erheblich zur Mobilisierung und Radikalisierung der Bewegung beitrugen.

Diskutieren im Sinne einer argumentativen und kontroversen Aussprache wurde von den Aktivisten zu einer Praxis erhoben, deren Symbolwert mindestens so groß war wie ihre kommunikative Funktion. Allein der formale Vollzug der Aussprache erfüllte bereits einen Zweck. Diskutieren war damit (auch) ein Ritual, über das sich die Protestbewegung definierte, ein Ritual durch das sie sich von den Etablierten zu unterscheiden glaubte, ein Ritual, das mobilisierte und integrierte.


DIE GRÜNEN

Auch als DIE GRÜNEN 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, sorgten sie nicht nur wegen ihrer politischen Inhalte für Aufsehen, sondern auch wegen der Formen ihrer politischen Kommunikation. Zur konstituierenden Sitzung des 10. Bundestages am 29. März 1983 zogen die Abgeordneten — einem Demonstrationszug gleich — vom Bonner Hofgarten ins Regierungsviertel und ließen sich dabei symbolisch von der Basis begleiten. In ihrem Selbstverständnis war die Partei nämlich lediglich ein Ast des mächtigen Baumes der neuen sozialen Bewegungen, der in die Parlamente hineinwuchern sollte. In der Präambel des Bundesprogramms von 1980 heißt es: „Wir halten es für notwendig, die Aktivitäten außerhalb des Parlaments durch die Arbeit in den Kommunal- und Landesparlamenten sowie im Bundestag zu ergänzen. […] Wir werden damit den Bürger- und Basisinitiativen eine weitere Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Anliegen und Ideen eröffnen.“

Die Grünen inszenierten sich als „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) und waren ihrem Selbstverständnis nach „die Alternative zu den herkömmlichen Parteien“ (Präambel des Bundesprogramms von 1980). Der Antiparlamentarismus speiste sich aus der Kritik an einer politischen Klasse, die den Interessen von Wirtschaft und Kapital diente, an einem Repräsentationsprinzip, das die Abgeordneten nicht auf den Willen der Volkes verpflichtete, und an einer Professionalisierung der Politik, die die Durchsetzung neuer Ideen verhinderte. Um eine Korrumpierung der eigenen Abgeordneten durch das parlamentarische System zu verhindern, fassten die Grünen im Januar 1983 die sog. Sindelfinger Beschlüsse. Demnach sollten die Abgeordneten ihr Mandat nur zwei Jahre wahrnehmen und dann für ihre Nachfolger Platz machen (Rotationsprinzip), in ihrem Abstimmungsverhalten und in ihrer sonstigen parlamentarischen Tätigkeit an die Beschlüsse der Basis gebunden sein (imperatives Mandat) und nur so viel verdienen wie ein Facharbeiter (Diätenbegrenzung). Daneben beschlossen die Grünen auch eine Trennung von Parteiamt und Mandat, um eine Machtkonzentration auf wenige Personen zu verhindern.

Auch in kommuniktiver Hinsicht setzten die Grünen alles daran, sich als basisdemokratische Partei zu inszenieren. Sie benannten keine Spitzenkandidaten für Wahlen, druckten keine Köpfe auf Wahlplakate, und gaben der Partei auf Bundes- und Länderebene kollektive Führungen aus zunächst je drei Vorsitzenden, die jedoch den Titel „Sprecher“ führten, um zu betonen, dass diese eigentlich keine Macht besäßen, sondern nur die Beschlüsse der Basis nach außen kommunizierten.

Die Grünen verschrieben sich zudem dem Prinzip der Transparenz: Statt Delegiertenversammlungen sollten ausschließlich Mitgliederversammlungen abgehalten werden; die „Mitgliederoffenheit der Sitzungen und Gremien auf allen Ebenen“ ist im Bundesprogramm 1980 festgeschrieben. Zudem sollten die Versammlungen der Grünen nicht nur den Mitgliedern, sondern allen interessierten Menschen offen stehen. Auch die ersten Fraktionssitzungen der Grünen im Bundestag waren öffentlich. Neben zahlreichen Pressevertretern nahmen auch die Nachrücker, Fraktionsmitarbeiter und Vertreter der Basis an den Sitzungen teil, die in der Anfangszeit nicht selten 10 bis 15 Stunden dauerten.

Und sie bedienten sich selbstverständlich weiterhin aktionistischer Formen der Politik. Zur konstitutierenden Sitzung des 10. Bundestages zog einer „eine spindeldürre, nadellose Fichte hinter sich her. Zwei andere rollten eine überdimensionale Weltkugel. Viele trugen Blumen.“ erinnert sich Ludger Vollmer in seinem Buch „DIE GRÜNEN. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei — Eine Bilanz“ (2009) an die Prozession ins Regierungsviertel. Am 15. Juli 1983 setzten sich Petra Kelly und Gert Bastian zusammen mit Wolf Biermann in einen Käfig und ketteten sich an den Zaun des Bundeskanzleramts, um gegen die Auslieferung eines Kurden an die Türkei zu demonstrieren.

Auch die Grünen benutzten also neue Kommunikationsformen und kommunikative Rituale, um ihre Identität als basisdemokratische Anti-Parteien-Partei und als parlamentarischer Ausleger der neuen sozialen Bewegungen zu symbolisieren. Die öffentlichkeitswirksamen Inszenierungen und Provokationen bescherten ihnen Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit.

Den neuen Kommunikationsformen der 68er und der Grünen wohnte ein utopisches Moment inne: sie schienen das Versprechen zu geben, dass eine qualitativ andere Demokratie möglich ist. Eine Demokratie, die dem besseren Argument verpflichtet ist, die allen Menschen Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen ermöglicht und in der die Entscheidungsfindung sich transparent vollzieht.


Und die Piraten

Wirft man einen Blick auf die Anfänge der Grünen, dann erscheint die Piratenpartei nur noch wenig originell. Vorsitzende, die sich als Sprecher verstehen und sich an die Voten der Basis gebunden fühlen, die Verpflichtung der Mandatsträger auf den Willen der Basis, öffentliche Fraktionssitzungen, Transparenzversprechen und öffentlich ausgetragene Streitigkeiten — das alles gab es schon bei den Grünen und sogar radikaler als bei den Piraten heute.

Dennoch verkörpert auch die Piratenpartei die Utopie einer anderen Demokratie. Und zwar weniger durch ihr politisches Programm als vielmehr durch die Formen der innerparteilichen Kommunikation und Entscheidungsfindung. Mit neuen technischen Mitteln wird der Versuch unternommen „Entscheidungen nicht im Rahmen von Vertreterversammlungen zu treffen, sondern einen basisdemokratischen Ansatz auch bei steigenden Mitgliederzahlen umsetzen zu können“, wie es im Piratenwiki zum Schlagwort Liquid Democray heißt. Dabei wird das Prinzip der Basisdemokratie um die Möglichkeit der Delegation der eigenen Stimme für bestimmte Themen oder Politikfelder ergänzt. Auch die Piratenpartei versucht die Utopie einer direkten Demokratie (Möglichkeit der Beteiligung aller Mitglieder an der Entscheidungsfindung) zu verwirklichen und setzt darauf, dass sich in Systemen wie LiquidFeedback Kompetenz (delegated voting) und der besser argumentierende Antrag Geltung verschaffen werden. Die innerparteiliche Kommunikation soll am Ende ein Modell für die Demokratie als Ganze sein.

68er, Grüne und Piraten haben in ihrer jeweiligen Zeit Kommunikationsformen besetzt und zu ihrem Markenzeichen gemacht, die Ausdruck eines alternativen Demokratieverständnisses waren, das gemessen an der Realität der parlamentarischen Demokratie durchaus als utopisch gelten kann. Es ist dieser durch die alternativen Kommunikationsformen symbolisierte Anspruch, der den neuen Bewegungen und Parteien ihr Charisma verlieh und verleiht und den neugegründeten Parteien eine so schnelle Mobilisierung von Wählern ermöglichte.

Freilich: Debatten mit den politischen Gegnern waren in den späten 60er und frühen 70er Jahren selten herrschaftsfreie rationale Diskussionen, sondern hatten häufig Tribunalcharakter. Und die Grünen haben Rotation, imperatives Mandat und öffentliche Fraktionssitzungen schnell wieder abgeschafft. Auch LiquidFeedback ist bei den Piraten längst keine allgegenwärtige Plattform zur politischen Meinungsbildung. Und dennoch: Der Anspruch ist symbolisch formuliert, das Versprechen, alles besser machen zu wollen, ist gegeben. Ob es gehalten wird, das wird die Zukunft zeigen. Das Symbol aber wirkt schon in der Gegenwart.


Interview zum Thema „Protest, Medien, Gewalt und Staat“

Posted on 21st März 2012 in Politik

Vor einiger Zeit habe ich Manuela Frey vom Magazin prisma, das von Studierenden der Universität St. Gallen (HSG) gemacht wird, ein Interview zum Thema „Protest, Medien, Gewalt und Staat“ gegeben. Den Text gebe ich hier wieder. Im Kontext kann man das Interview hier lesen. Das ganze Heft kann man auch als PDF herunterladen.


Herr Scharloth, was ist Protest?

Öffentliche Äusserung von Dissens.

Haben sich Protestformen seit 1945 stark verändert? Oder wird das soziologische Phänomen des Protests im Grunde immer ähnlich bleiben?

Ich denke nicht, dass wir von starken Veränderungen sprechen können. Eher von einer Ausdifferenzierung und Professionalisierung. Zudem hat es das Internet, das alle Teilnehmer zu potenziellen Sendern macht, leichter gemacht Protest zu organisieren und zu artikulieren. Ob der Protest ähnlich bleiben wird, hängt nicht vom Protest alleine ab. Protest ist immer bezogen auf die politischen und sozialen Verhältnisse und auf die Strukturen der Öffentlichkeit. Wenn sich hier etwas fundamental ändert, dann ändert sich auch der Protest.

Medien (Pressefreiheit) und Proteste (Versammlungs- und Meinungsfreiheit) sind oft genannte Grundpfeiler einer Demokratie. Wie hängen diese zwei Pfeiler zusammen?

Protest braucht Medien, um für ein Thema möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzeugen. Daher sind Protestbewegungen darum bemüht, Ereignisse zu inszenieren, die in die Medienlogik passen und einen Nachrichtenwert haben. Solche Ereignisinszenierungen im Medienformat sind ein Zeichen für die Professionalisierung des Protests. Andererseits transformieren die Medien die Botschaften, um sie für ihr spezifisches Publikum interessant und konsumierbar zu machen. Daher gehört es zur Medienpolitik von Protestbewegungen auch, dass sie sich eigene Medien schaffen, seien es Live-Streams von Protestereignissen, Flugblätter oder Webseiten. Interessant erscheint mir vor diesem Hintergrund die Frage der begrenzten Regelverletzung und noch mehr der Gewalt. Medien berichten nämlich bevorzugt dann von Protesten, wenn es in ihrem Rahmen zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei oder zu nennenswerten Sachbeschädigungen gekommen ist. Der Wunsch der Medien (und ihrer Konsumentinnen und Konsumenten) nach Skandalisierbarem und das Aktionsrepertoire von Protestbewegungen beeinflussen sich hier gegenseitig. Ich kenne Aktivisten, die deshalb auch stillschweigend Aktionen des Schwarzen Blocks billigen, auch wenn sie sich offiziell von Gewalt distanzieren.

Welche Rolle hat also Gewalt für Protestbewegungen?

Gewalt schafft natürlich auch kritische Ereignisse, durch die Bewegungen eine Identität bekommen oder sich radikalisieren können. Denken Sie an die so genannten Globuskrawalle, die die Situation in Zürich 1968 komplett veränderten, an den Tod von Benno Ohnesorg 1967 in Berlin, der ein Wendepunkt für die 68er-Bewegung in Deutschland war, oder an den Tod von Carlo Giuliani während des G8-Gipfels 2001 in Genua.

Interessant ist aber auch eine andere Frage: Welche Rolle spielt die Gewalt in sozialen Bewegungen für den Staat?

Zu den nichtintendierten Effekten von Protestbewegungen gehört, dass sie dazu geführt haben, dass Polizei und Nachrichtendienste aufgerüstet haben. Denken Sie an die Anschaffung von Wasserwerfern in Folge der Proteste der 68er oder die Ausstattung der Polizei mit Gummigeschossen im Zuge der Jugendunruhen in den frühen 1980ern. Gewaltsamer Protest kann daher von staatlicher Stelle durchaus gewünscht sein, um in einer Güterabwägung Einschränkungen von Grundrechten zu rechtfertigen. Daher gibt es auch immer wieder Gerüchte über Agents Provocateurs, die sich wie im Fall der 68er-Bewegung in der BRD teilweise als wahr erwiesen haben.

Kann man im Zusammenhang mit dem Internet und Social/New Media von einer „Verbequemlichung“ des Protests sprechen?

Es lässt sich ja heutzutage von der Couch aus eine Onlinepetition ausfüllen oder seine Meinung auf Facebook oder Twitter massenwirksam kundtun. Die Hürde, Protest zu artikulieren, ist dadurch sicher kleiner geworden. Aber Ihre Frage klingt so, als müsse es mit grosser Anstrengung verbunden sein, Kritik öffentlich zu äussern, damit sie glaubhaft ist. Der Punkt ist hier: Es mag leichter geworden sein, Dissens zu artikulieren. Aber weil so viele die Möglichkeit haben, sich zu allem Möglichen zu äussern, ist es auch viel schwieriger, Aufmerksamkeit dafür zu erzeugen. Eine einzelne Äusserung auf Twitter oder Facebook interessiert doch nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen und wird im Strom der anderen Meldungen davongespült. Damit Aufmerksamkeit im Netz entstehen kann, müssen viele Menschen etwas Ähnliches tun. Und das zu organisieren und zu orchestrieren, ist wieder eine Menge Arbeit und Engagement von vielen Einzelnen.

Glauben Sie, dass der Arabische Frühling auch ohne die Hilfe von Twitter, Facebook und Co. in der Form stattgefunden hätte?

Zum Arabischen Frühling: Ehrlich gesagt — keine Ahnung. Da gibt es solche und solche Meinungen. Interessant finde ich eher, dass das Internet und die sozialen Medien in den letzten Jahren selbst zum Politikum geworden sind. Das ist im Grunde nicht neu: Auch früher haben sich Proteste gegen Medien gerichtet, denken Sie an die Anti-Springer-Kampagne der deutschen 68er-Bewegung. Aber die Situation ist heute natürlich eine andere: Facebook und Twitter stellen selbst keine Inhalte zur Verfügung und haben eher das Image, eine Plattform zu sein, auf der jeder seine Meinung frei äussern kann. Einerseits wegen der Erfahrungen im Arabischen Frühling (Internetabschaltungen, Sperrung sozialer Netzwerke), aber auch wegen ihres Datenhungers und der Gerüchte über Backdoors für amerikanische Sicherheitsbehörden hat die Reflexion darüber begonnen, was es bedeutet, dass kritische Öffentlichkeit über die Plattformen und Server von weltweit sehr wenigen privaten Unternehmen hergestellt wird. Die Strukturen des Internets sind daher selbst zum Thema einer Protestbewegung geworden. In ihrer Folge wird sich meiner Meinung nach die Bewegung hin zu dezentralen sozialen Netzwerken, die sich Abschaltung, Zensur und staatlicher Überwachung weitgehend entziehen, verstärken.

Wie wird ein Protest in 50 Jahren aussehen?

Warten wir’s ab!


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Textklassifikation und Autorenidentifikation mit Hilfe komplexer n-Gramm-Analyse

Heute möchte ich eine Methode zur Klassifikation von Texten vorstellen, in der sprachliche Einheiten nicht isoliert betrachtet werden, sondern jeweils kleine Fetzen sprachlichen Materials analysiert werden. Je größer die analysierten Fetzen sind, desto eher kann man natürlich davon ausgehen, dass sie irgendwelche relevanten Informationen transportieren: Ein Satz enthält mehr Informationen als zwei Wörter. Je größer allerdings die Einheiten sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie in der gleichen Form wieder auftreten. Das ist wiederum problematisch, weil man bei der Analyse ja nach wiederkehrenden Mustern sucht und je größer die Einheiten sind, desto mehr Text braucht man, damit man wiederkehrende Muster in aussagekräftiger Zahl bekommt. Alles eine Frage der Skalierung also. Die im Folgenden beschriebene und erprobte Methode könnte man als komplexe n-Gramm-Analyse bezeichnen.

komplexe n-Gramme

n-Gramme sind Einheiten, die aus n Elementen bestehen. Normalerweise werden n-Gramme als Folge von Wortformen verstanden. Im Rahmen einer n-Gramm-Analyse werden alle im Korpus vorkommenden n-Gramme berechnet, wobei bestimmte Parameter wie Länge der Mehrworteinheit (aus zwei, drei oder mehr Wörtern bestehend) oder Spannweite (sind Lücken zwischen den Wörtern erlaubt?) festgelegt werden. Die hier verwendete n-Gramm-Analyse betrachtet jedoch nicht nur Wortformen als Einheiten, sondern auch weitere interpretative linguistische Kategorien. Dies können zum einen Elemente sein, die sich auf die Tokenebene beziehen und die Wortform funktional oder semantisch deuten (als Repräsentant einer Wortart oder als Teil einer semantischen Klasse). Zum anderen aber auch Elemente, die über die Tokenebene hinausgreifen, etwa das Tempus oder die Modalität einer Äußerung (direkte vs. indirekte Rede).

Kombinationen von n Einheiten

Welche Elemente in die Analyse mit einbezogen werden, hängt einerseits von der jeweiligen Forschungsfrage ab, andererseits forschungspraktisch auch davon, welche Ressourcen für die Annotation des Korpus zur Verfügung stehen. Bei standardsprachlichen Korpora können Lemma- und Wortarteninformationen durch Tagger wie dem TreeTagger leicht und effizient annotiert werden. Eine Wortformenfolge wie „Ich glaube, dass“ hat dann in einem XML-annotierten Korpus etwa folgende Form:

<w pos=“PPER“ lemma=“ich“>Ich</w>
<w pos=“VVFIN“ lemma=“glauben“>glaube</w>
<w pos=“$,“ lemma=“,“>,</w>
<w pos=“KOUS“ lemma=“dass“>dass</w>

Berechnet man nun beispielsweise Tetragramme, die nicht nur die Wortformen, sondern auch Lemmata und Wortarteninformationen als weitere Elemente mit einzubeziehen, dann ergeben sich bei drei Dimensionen 3^4=81 Vier-Einheiten-Kombinationsmöglichkeiten:

Ich glaube , dass
ICH GLAUBEN , DASS
PPER glaube , dass
PPER GLAUBEN, dass
Ich VVFIN , dass
Ich glaube , KOUS
PPER VVFIN , dass

Jedes der Tetragramme, das sich in einem der beiden Korpora findet, kann nun als eine Variable aufgefasst werden, aufgrund deren Verteilung sich die Texte im Korpus potenziell stilistisch unterscheiden.

Das GerMov-Korpus

Die folgenden Untersuchungen werden anhand des GerMov-Korpus, einem Korpus zur gesprochenen und geschriebenen Sprache der 68er-Bewegung durchgeführt. Das Korpus habe ich im Rahmen einer umfangreichen Studie zum Einfluss von 68er-Bewegung und Alternativmilieu auf die Kommunikationsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erstellt. Bei der Zusammenstellung des Korpus und seiner Subkorpora waren zunächst außersprachliche Gesichtspunkte, in einem zweiten Schritt textlinguistische Überlegungen leitend. Das Korpus sollte es u. a. erlauben, unterschiedliche Stile der verbalen face-to-face-Interaktion innerhalb der 68er-Bewegung zu rekonstruieren. Dabei wurde ausgehend von der Forschung zum Kleidungsverhalten  und zur medialen Vermittlung expressiver Formen des Protests  von einer lebensstilistischen Dualität innerhalb der Bewegung ausgegangen, die ihre Wurzeln auch in konkurrierenden Ideologien hatte.

Sozialstilistik der 68er-Bewegung

Auf der einen Seite standen die Träger eines intellektuell-avantgardistischen Stils. Bei ihnen handelte es sich um Angehörige unterschiedlicher sozialer Gruppen, die während der 68er-Bewegung aber intensiv kooperierten: zum einen die Studierenden, vornehmlich solche, die in linken Studentenverbänden organisiert waren, zum anderen Linksintellektuelle, die in Politik, Universität, Verwaltung oder im kulturellen Sektor bereits Karriere gemacht hatten, die sich beispielsweise in Republikanischen Clubs zusammenfanden. Sie pflegten einen auf symbolische Distinktion zunächst weitgehend verzichtenden Lebensstil, trugen Anzug oder Freizeitkleidung (Hemd und Pullovern, Jacket und Cordhose) und praktizierten Lebensformen wie andere Menschen ihrer Berufsgruppen. Nur in einem Bereich legten sie Wert auf Unterscheidung: Sie inszenierten sich als intellektuelle Informations- und Diskussionselite.

Auf der anderen Seite standen die Träger eines hedonistischen Selbstverwirklichungsstils, der in Kommunen und Subkulturen geprägt wurde. Sie entdeckten den eigenen Körper als zentrales Medium des expressiven Protestes, griffen – ähnlich den amerikanischen Hippies – tief in den Fundus von Kostümverleihen und Second-Hand-Läden, spielten mit Nacktheit und Schmuck, ließen sich Bärte und Haare wachsen und praktizierten eine ostentativ informelle Körpersprache. Sie verschmolzen antibürgerliche symbolische Formen mit denen jugendlicher Populärkultur zu einem sich als individualistisch verstehenden, lustbetonten Lebensstil: Die Revolution sollte bei jedem Einzelnen beginnen und vor allem Spaß machen. Während die intellektuellen Avantgarden das Ziel der 68er-Bewegung in einer Umwälzung der Besitz- und Produktionsverhältnisse sahen, begriffen die hedonistischen Kommunarden also die Bewegung als Chance für die Entwicklung und Praktizierung neuer Lebensformen, die eine gesellschaftliche Veränderung zwangsläufig mit sich bringen würde.

Zusammensetzung des Korpus

Die Kriterien der Milieuzugehörigkeit der Textproduzenten, der Medialität / Textsorte und der Kommunikationssituation setzte der Textauswahl sehr enge Grenzen. Die einzige Textsorte, für die hinsichtlich aller Kriterien eine hinreichende Menge an Texten gefunden werden konnte, waren Tonbandprotokolle. Insgesamt konnten 29 Tonbandprotokolle aus den Jahren 1967 bis 1969 in Archiven und zeitgenössischen Buch- und Zeitschriftenpublikationen gefunden werden, davon stammen 21 aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu, 8 aus dem linksintellektuellen Milieu. Die Zuordnung erfolgte beim linksintellektuellen Milieu anhand der identifizierbaren Gesprächsteilnehmer und deren Zugehörigkeit zu politischen Gruppen, die jeweils den Milieus eindeutig zuzuordnen waren. Die Protokolle aus dem Kommunemilieu waren ausnahmslos als solche betitelt und wurden in szenetypischen Kontexten publiziert, was auch hier eine zweifelsfreie Zuordnung ermöglichte.

Das GerMov-Korpus wurde mit Hilfe des TreeTaggers tokenisiert, mit Wortarten-Informationen annotiert und lemmatisiert. Beim verwendeten Tagset handelt es sich um das Stuttgart-Tübingen-Tagset (STTS).  Darüber hinaus wurden einige Kategorien auf der Token-Ebene wie Kommunikationsverben, Intensivierer und Schlagwörter der Neuen Linken annotiert.

Textclustering mittels komplexer n-Gramme

Berechnungsparameter: Berechnet wurden komplexe Pentagramme ohne Leerstellen, die aus den Dimensionen Wortarteninformation (einschließlich semantischer Klassen) und Wortformen zusammengesetzt wurden, wobei auf der Dimension Wortform nur Funktionswörter und Satzzeichen in die Analyse einbezogen wurden. Auf die Dimension Lemma wurde gänzlich verzichtet. Die Pentagramme wurden über Satzgrenzen hinaus berechnet. Es wurden nur solche n-Gramme in die Analyse aufgenommen, die im Gesamtkorpus mindestens vier Mal auftraten. Um den Einfluss der Textlängendifferenz zu reduzieren, wurden für die hierarchische Clusteranalyse nach dem Ward-Verfahren die Frequenzen der n-Gramme nach der Textlänge gewichtet.

Nun aber zu den Ergebnissen der Clusteranalyse: Im folgenden Dendrogramm sind die Namen der Texte so gewählt, dass die anhand außersprachlicher Kriterien erfolgte Milieuzuteilung ersichtlich ist. „Linksintellektuell“ steht für das linksintellektuell-avantgardistische Milieu, „Hedonistisch“ für das hedonistische Selbstverwirklichungsmilieu. Die Ziffer im Anschluss an die Milieubezeichnung ist lediglich eine Identifizierungsnummer. Fünf der 21 Protokolle aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu stammen aus einer einzigen Kommue, der sog. Linkseckkommune. Sie wurden zusätzlich mit einem „l“ nach der ID gekennzeichnet.

Dendrogramm des Textclusterings anhand komplexer n-Gramme von Tonbandprotokollen der 68er-Bewegung

Dendrogramm des Textclusterings anhand komplexer n-Gramme von Tonbandprotokollen der 68er-Bewegung

Die Clusteranalyse zeigt, dass die Protokolle aus dem linksintellektuellen Milieu ein Cluster bilden, das sich deutlich von den Protokollen des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus unterscheidet. Innerhalb der Protokolle des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus bilden die fünf Protokolle aus der Linkeckkommune wiederum ein eigenes Cluster. Die größte Differenz jedoch besteht zwischen Protokoll 14 aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu und allen anderen Protokollen. Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Offensichtlich werden hier Effekte der Textlänge sichtbar. Das Protokoll Nummer 14 ist mit einer Länge von gerade einmal 71 Wörtern das kürzeste und enthält damit offenbar nicht hinreichend viel Text, um aus ihm eine für stilistische Analysen hinreichend große Menge an n-Grammen zu bilden. Die Gewichtung der Frequenz der auftretenden n-Gramme nach der Textlänge dürfte den Effekt noch verstärkt haben.

Geht man von der Annahme aus, dass den sozialstilistischen Unterschieden, auf deren Basis die Zuweisung der Texte zu Milieus erfolgte, auch kommunikationsstilistische Unterschiede korrespondieren, so deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das gewählte Verfahren dazu ziemlich gut geeignet ist, stilistische Unterschiede aufzudecken.

Man muss aber der Ehrlichkeit halber hinzufügen, dass die stilistischen Unterschiede in den Texten wirklich sehr ausgeprägt sind und auch bei einer einigermaßen aufmerksamen Lektüre hätten auffallen müssen. Wirklich überrascht war ich allerdings davon, dass sich alle Protokolle der Linkeckkommune tatsächlich in einem Cluster wiederfanden.


Ausführlich nachlesen kann man das Ganze übrigens hier:

Scharloth, Joachim / Noah Bubenhofer (2011): Datengeleitete Korpuspragmatik: Korpusvergleich als Methode der Stilanalyse. In: Ekkehard Felder / Marcus Müller / Friedemann Vogel (Hrsg.): Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen von Texten und Gesprächen. Berlin, New York: de Gruyter.

Scharloth, Joachim / Noah Bubenhofer / Klaus Rothenhäusler (2011): „Anders schreiben“ aus korpuslinguistischer Perspektive: Datengeleitete Zugänge zum Stil. In: Britt Marie Schuster / Doris Tophinke: Anders schreiben. Berlin: Erich Schmidt Verlag.




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