Postprivacy und Kommune: Heilsversprechen mit Tendenz zum Totalen

Posted on 10th Dezember 2011 in Überwachung und Sicherheit

Wer einen Paradigmenwechsel erfolgreich herbeiführen will, der muss Traditionen für sich vereinnahmen. Das Neue, für das man eintritt, erscheint den Kritikern nämlich dann nicht mehr ganz so schlimm, wenn man darauf verweisen kann, dass es schon früher etwas Ähnliches gegeben hat, besonders dann, wenn die Tradition, auf die man sich beruft, positiv besetzt ist. Die deutsche Postprivacy-Bewegung stellt sich nun in die Tradition der Kommunebewegung der späten 1960er Jahr. Rainer Langhans sollte auf der 0. Spackeriade die Keynote halten, darf nun aber nicht.

Lebensstil-Politik

Dabei hätte das durchaus Charme gehabt: Die Mitglieder der Kommune I, allen voran Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann waren die Popstars der 68er-Bewegung. Sie kleideten sich bunt, pflegten einen ostentativen Hedonismus und ernteten mit ihren Spaßguerilla-Aktionen viel Aufmerksamkeit. Indem die linksintellektuellen Politaktivisten die Kommunarden als Politclowns marginalisierten, erwiesen sie sich als blind gegenüber der politischen Dimension und der gesellschaftlichen Sprengkraft dieses Lebensstils. Während Dutschke und andere SDS-Größen im Politikteil der Gazetten verhandelt wurden, belebte die Kommune I das Boulevard mit Homestories aus dem Kommunealltag und Geschichten über ihre Sexualität. Wie ihre Aktionen, so waren auch ihre Interviews wohl kalkulierte Ereignisinszenierungen im medientauglichen Format. Und das Boulevard dankte es ihnen mit Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die es der Kommune ermöglichte, ihren expressiven Lebensstil über die Zentren des Protests hinaus bekannt zu machen. Dieser Lebensstil war eine Schnittstelle zwischen politischem Protest und jugendlicher Popkultur und damit ein wichtiger Katalysator für die Entstehung eines gegenkulturellen Milieus, dessen Angehörige viele gesellschaftliche Innovationen initiiert haben.

Diese Lebensstilpolitik hat der Kommune I natürlich viel Kritik eingebracht von jenen, die glaubten, Politisieren sei ein ernstes Geschäft, in dem man andere Menschen mit Argumenten überzeugen müsse. Auch die Spackeria erntet derzeit viel Kritik für ihre postprivatistischen Ideen und stilisiert sich zugleich zu einer Avantgarde, die sich weniger über Theorien definiert, sondern über ihren Lebensstil. Die Gemeinsamkeiten gehen jedoch tiefer.

Kommune und Postprivacy: das Ende der Privatheit

Anschlussfähig für die Post-Privacy-Bewegung ist der Umgang der Kommunebewegung mit dem Privaten. Die Kommune I wurde nach Dieter Kunzelmann aus der Einsicht heraus gegründet, dass eine Organisation, die „die Gesellschaft in Richtung auf eine anti-autoritäre, egalitäre, anti-private Struktur ändern will, sich selbst anti-autoritär und anti-privat organisieren muß.“ (zitiert in Koplin 1968: 48). Von der Kommune I wird kolportiert, sie habe die Toilettentüren ausgehängt, damit ihre Mitglieder sich niemals der Gruppe entziehen könnten. Tatsächlich hat man wohl nur darauf bestanden, dass Zimmertüren offen bleiben sollten, obwohl auch hier Ausnahmen geduldet wurden. Die Linkeckkommune hatte sich darauf geeinigt, dass jeder das Recht habe, jederzeit jedes Zimmer zu betreten. Neben der Verhinderung von Vereinzelungen, sollte auch private Kommunikation nicht mehr möglich sein. Rainer Langhans hat mir erzählt, er hätte einen Lautsprecher ins Telefon eingebaut, damit die Mitbewohner immer das volle Gespräch mithören konnten, wenn jemand anrief. Während die Kommune I ihr Innenleben vor allem über die Presse nach außen trug, veröffentlichten andere Bücher: Hartmut Sanders und Ulrich Christians‘ „Subkultur Berlin“ enthielt lange Tonbandprotokolle von Gespräche der Linkeck-Kommune, Rolf-Ulrich Kaiser druckte 1970 in „Fabrikbewohner“ Alltagsgespräche aus der Kommune X (auch Kommune 99 / Horla-Kommune) nach und der 1969 erschienene Bericht über den „Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums“ der Kommune 2 bestand vorwiegend aus Protokollen aus dem Alltagsleben der Kommunemitglieder.



Zeichnung aus dem Protokollbuch der Kommune 2

Zeichnung aus dem Protokollbuch der Kommune 2



Eschatologische Dimensionen

Die Entäußerung des Privaten — das deutet der Titel des K2-Buches an — geschah nicht aus der puren Lust am Exhibitionismus. Er folgte einem eschatologischen Programm: Es ging um nichts weniger als um die Schaffung eines neuen Menschen, der frei sein würde von den Zwängen bürgerlicher Existenz: „Nur der radikale Bruch mit der überkommenen Dreiecksstruktur der Familie kann zu kollektiven Lebensformen führen, in denen die Individuen fähig werden, neue Bedürfnisse und Phantasie zu entwickeln, deren Ziel die Schaffung des neuen Menschen in der revolutionierten Gesellschaft ist.“ (Kommune 2 1969: 70.) Auch hier zeigen sich Parallelen zur Post-privacy-Bewegung. Deren Utopie einer Ethik des Teilens und der Offenheit, die völlig neue Formen des Miteinanders hervorbringe, oder zur Unsterblichkeit durch Mindupload haben ebenfalls den Charakter einer Heilslehre. Heilbringendes Medium für die Postprivatisten ist die uneingeschränkte Kommunikation. Und auch das verbindet sie mit der Kommunebewegung.

Jeder muss alles sagen

Vergemeinschaftendes Herz der Kommunen der Frühzeit nämlich war das Gespräch. Nicht das zufällige Gespräch am Küchentisch, sondern das Gespräch mit rituellem Charakter: häufig eröffnet vom Schwellenritual des kreisenden Joint diskutierte man zu festen Zeiten mit stetig wiederkehrenden Sequenzmustern die Probleme des Zusammenlebens als Symptome für die mangelhafte Revolutionierung der Einzelnen.

In allen Kommunen bestand ein informeller Zwang zur Teilnahme an diesen Gesprächen. So war es der einzige verbindliche Grundsatz der Kommune 2, „über alle auftauchenden Probleme gemeinsam zu sprechen.“ (Kommune 2 1969: 46) Nicht nur musste jedes Kommunemitglied zeitweilig Gegenstand des Gesprächs werden, es war auch so, dass sich jedes Mitglied in das Gespräch einbringen musste. Die Ablehnung eines Gesprächsthemas, Passivität und bloßes Zuhören waren nicht gestattet. So forderte Hans-Joachim Hameister in einer Diskussion der Kommune I am 22.3.1967, deren Protokoll nur in einer lückenhaften polizeilichen Abschrift überliefert ist: „jeder muß seine individuelle Situation auf den allgemeinen Stand bringen, Schweiger müssen reden u. warten nicht mehr darauf, daß ihr Problem verhandelt wird […]. Diskussion heißt nicht mehr aufgesucht u. aufgefunden zu werden wie in der bürgerlichen Kommunikation“. Wer nicht mitmachte, flog raus: In der Kommune 2 weigerten sich Jörg und Lisbeth ihre Beziehungsprobleme vor dem Kollektiv auszubreiten — sie mussten die Kommune verlassen, denn sie hatten den „einzigen Kommune-Grundsatz angegriffen“ (Kommune 2 1969: 46).

Die Unterwerfung des Einzelnen unter die Autorität der Gruppe

Konstitutiv für das Gemeinschaftsleben war zudem, dass alle Entscheidungen in den Kommunen nach ausführlicher Diskussion nach dem Konsensprinzip getroffen werden und verbindlich sein sollten. Dies konnte so weit gehen, dass — wie in der Kommune I geschehen — die Mitglieder nach eingehender Diskussion zu dem Ergebnis kamen, dass eine schwangere Kommunardin ihr Kind abtreiben lassen sollte. Die Mitglieder der Kommunen empfanden die Gespräche als „Psychoterrorsitzungen“ (Przytulla 2002: 206), bei denen der psychische Zusammenbruch durchaus erwünscht war und zum Ritual des Reihengesprächs gehörte. Das belegt sogar eine Bemerkung Fritz Teufels, die sich in den Protokollen der Kommune I findet: „Zusammenbrüche produzierten eine Spannung, die nicht mehr zu ertragen war u. die Zusammenbrüche waren keine selbsttätigen, sondern Pflichtübungen den Autoritäten gegenüber. Autorität gleich Gruppenautorität.“

Die Kommunen verlangten also nichts weniger als die Unterwerfung des Einzelnen unter die Autorität der Gruppe. Der zunächst rein formale Zwang zur Teilnahme am Gespräch entfaltete Geltungsansprüche, die tief in die Freiheit der Einzelnen eingriffen und ins Totale spielen konnten. Nicht individuelle Entfaltung sondern Disziplinierung im Sinne der Gruppe waren das Ergebnis.

Postprivacy und Kommune

Und hier liegt die Pointe der ganzen Geschichte: Auch die Anhänger der Post-privacy-Ideologie erheben die rein formalen Forderung, keiner möge der Veröffentlichung von Daten im Wege stehen, und verbinden damit die vage Hoffnung auf eine Potenzierung individueller und gesellschaftlicher Möglichkeiten. Die Konsequenz aber, das ist aus den Kommuneexperimenten zu lernen, ist nicht ein höheres Maß an Freiheit, sondern eine Ausweitung der Geltungsansprüche der Vielen auf jeden Einzelnen und damit eine Einschränkung des Möglichkeitsraums.

Im Artikel „Kommunarden über sich selbst“ in der konkret vom 7.10.1968 kritisiert ein Mitglied der Kommune 99 die postprivatistische Lebensweise: „Die K I hat in der Fabrik, wo sie jetzt wohnen, einen einzigen Raum, in dem sie alle zusammen leben. Ich stelle mir das fürchterlich vor. Wie willst du dich da zurückziehen? Ich halte es doch für sehr wichtig, daß man auch ein bißchen Privatleben hat. Man kann nicht so ausgerichtet sein, daß alles Individuelle verlorengeht. Im Gegenteil: Individuelle Eigenarten müssen gefördert werden.“


[Persönliche Nachbemerkung: Mit Rainer Langhans kann man reden und er kann sogar zuhören. Seine Ausladung finde ich daher bedauerlich.]



Literatur:

  • Kaiser, Rolf-Ulrich (1970): Fabrikbewohner: Protokoll einer Kommune und 23 Trips. Düsseldorf: Droste.
  • Kommune 2 (1969): Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Berlin: Oberbaum Presse.
  • Mein, Wolf / Wegen, Lisa (1971): Die Pop-Kommune: Dokumentation über Theorie und Praxis einer neuen Form des Zusammenlebens. München: Heyne.
  • Peinemann, Steve B. (1975): Wohngemeinschaft. Problem oder Lösung?. Frankfurt am Main: Verlag Rieta Hau.
  • Przytulla, Dagmar (2002): „Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren“. In: Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, hg. v. Ute Kätzel, Berlin: Rowohlt Berlin, S. 201–219.
  • Sander, Hartmut / Christians, Ulrich (1969): Subkultur Berlin. Darmstadt: März-Verlag.

Mein Buch zur Bedeutung der 68er-Bewegung für die Kulturggeschichte der BRD:


Scharloth, Joachim (2011): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. Paderborn: Fink.


Textklassifikation und Autorenidentifikation mit Hilfe komplexer n-Gramm-Analyse

Heute möchte ich eine Methode zur Klassifikation von Texten vorstellen, in der sprachliche Einheiten nicht isoliert betrachtet werden, sondern jeweils kleine Fetzen sprachlichen Materials analysiert werden. Je größer die analysierten Fetzen sind, desto eher kann man natürlich davon ausgehen, dass sie irgendwelche relevanten Informationen transportieren: Ein Satz enthält mehr Informationen als zwei Wörter. Je größer allerdings die Einheiten sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie in der gleichen Form wieder auftreten. Das ist wiederum problematisch, weil man bei der Analyse ja nach wiederkehrenden Mustern sucht und je größer die Einheiten sind, desto mehr Text braucht man, damit man wiederkehrende Muster in aussagekräftiger Zahl bekommt. Alles eine Frage der Skalierung also. Die im Folgenden beschriebene und erprobte Methode könnte man als komplexe n-Gramm-Analyse bezeichnen.

komplexe n-Gramme

n-Gramme sind Einheiten, die aus n Elementen bestehen. Normalerweise werden n-Gramme als Folge von Wortformen verstanden. Im Rahmen einer n-Gramm-Analyse werden alle im Korpus vorkommenden n-Gramme berechnet, wobei bestimmte Parameter wie Länge der Mehrworteinheit (aus zwei, drei oder mehr Wörtern bestehend) oder Spannweite (sind Lücken zwischen den Wörtern erlaubt?) festgelegt werden. Die hier verwendete n-Gramm-Analyse betrachtet jedoch nicht nur Wortformen als Einheiten, sondern auch weitere interpretative linguistische Kategorien. Dies können zum einen Elemente sein, die sich auf die Tokenebene beziehen und die Wortform funktional oder semantisch deuten (als Repräsentant einer Wortart oder als Teil einer semantischen Klasse). Zum anderen aber auch Elemente, die über die Tokenebene hinausgreifen, etwa das Tempus oder die Modalität einer Äußerung (direkte vs. indirekte Rede).

Kombinationen von n Einheiten

Welche Elemente in die Analyse mit einbezogen werden, hängt einerseits von der jeweiligen Forschungsfrage ab, andererseits forschungspraktisch auch davon, welche Ressourcen für die Annotation des Korpus zur Verfügung stehen. Bei standardsprachlichen Korpora können Lemma- und Wortarteninformationen durch Tagger wie dem TreeTagger leicht und effizient annotiert werden. Eine Wortformenfolge wie „Ich glaube, dass“ hat dann in einem XML-annotierten Korpus etwa folgende Form:

<w pos=“PPER“ lemma=“ich“>Ich</w>
<w pos=“VVFIN“ lemma=“glauben“>glaube</w>
<w pos=“$,“ lemma=“,“>,</w>
<w pos=“KOUS“ lemma=“dass“>dass</w>

Berechnet man nun beispielsweise Tetragramme, die nicht nur die Wortformen, sondern auch Lemmata und Wortarteninformationen als weitere Elemente mit einzubeziehen, dann ergeben sich bei drei Dimensionen 3^4=81 Vier-Einheiten-Kombinationsmöglichkeiten:

Ich glaube , dass
ICH GLAUBEN , DASS
PPER glaube , dass
PPER GLAUBEN, dass
Ich VVFIN , dass
Ich glaube , KOUS
PPER VVFIN , dass

Jedes der Tetragramme, das sich in einem der beiden Korpora findet, kann nun als eine Variable aufgefasst werden, aufgrund deren Verteilung sich die Texte im Korpus potenziell stilistisch unterscheiden.

Das GerMov-Korpus

Die folgenden Untersuchungen werden anhand des GerMov-Korpus, einem Korpus zur gesprochenen und geschriebenen Sprache der 68er-Bewegung durchgeführt. Das Korpus habe ich im Rahmen einer umfangreichen Studie zum Einfluss von 68er-Bewegung und Alternativmilieu auf die Kommunikationsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erstellt. Bei der Zusammenstellung des Korpus und seiner Subkorpora waren zunächst außersprachliche Gesichtspunkte, in einem zweiten Schritt textlinguistische Überlegungen leitend. Das Korpus sollte es u. a. erlauben, unterschiedliche Stile der verbalen face-to-face-Interaktion innerhalb der 68er-Bewegung zu rekonstruieren. Dabei wurde ausgehend von der Forschung zum Kleidungsverhalten  und zur medialen Vermittlung expressiver Formen des Protests  von einer lebensstilistischen Dualität innerhalb der Bewegung ausgegangen, die ihre Wurzeln auch in konkurrierenden Ideologien hatte.

Sozialstilistik der 68er-Bewegung

Auf der einen Seite standen die Träger eines intellektuell-avantgardistischen Stils. Bei ihnen handelte es sich um Angehörige unterschiedlicher sozialer Gruppen, die während der 68er-Bewegung aber intensiv kooperierten: zum einen die Studierenden, vornehmlich solche, die in linken Studentenverbänden organisiert waren, zum anderen Linksintellektuelle, die in Politik, Universität, Verwaltung oder im kulturellen Sektor bereits Karriere gemacht hatten, die sich beispielsweise in Republikanischen Clubs zusammenfanden. Sie pflegten einen auf symbolische Distinktion zunächst weitgehend verzichtenden Lebensstil, trugen Anzug oder Freizeitkleidung (Hemd und Pullovern, Jacket und Cordhose) und praktizierten Lebensformen wie andere Menschen ihrer Berufsgruppen. Nur in einem Bereich legten sie Wert auf Unterscheidung: Sie inszenierten sich als intellektuelle Informations- und Diskussionselite.

Auf der anderen Seite standen die Träger eines hedonistischen Selbstverwirklichungsstils, der in Kommunen und Subkulturen geprägt wurde. Sie entdeckten den eigenen Körper als zentrales Medium des expressiven Protestes, griffen – ähnlich den amerikanischen Hippies – tief in den Fundus von Kostümverleihen und Second-Hand-Läden, spielten mit Nacktheit und Schmuck, ließen sich Bärte und Haare wachsen und praktizierten eine ostentativ informelle Körpersprache. Sie verschmolzen antibürgerliche symbolische Formen mit denen jugendlicher Populärkultur zu einem sich als individualistisch verstehenden, lustbetonten Lebensstil: Die Revolution sollte bei jedem Einzelnen beginnen und vor allem Spaß machen. Während die intellektuellen Avantgarden das Ziel der 68er-Bewegung in einer Umwälzung der Besitz- und Produktionsverhältnisse sahen, begriffen die hedonistischen Kommunarden also die Bewegung als Chance für die Entwicklung und Praktizierung neuer Lebensformen, die eine gesellschaftliche Veränderung zwangsläufig mit sich bringen würde.

Zusammensetzung des Korpus

Die Kriterien der Milieuzugehörigkeit der Textproduzenten, der Medialität / Textsorte und der Kommunikationssituation setzte der Textauswahl sehr enge Grenzen. Die einzige Textsorte, für die hinsichtlich aller Kriterien eine hinreichende Menge an Texten gefunden werden konnte, waren Tonbandprotokolle. Insgesamt konnten 29 Tonbandprotokolle aus den Jahren 1967 bis 1969 in Archiven und zeitgenössischen Buch- und Zeitschriftenpublikationen gefunden werden, davon stammen 21 aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu, 8 aus dem linksintellektuellen Milieu. Die Zuordnung erfolgte beim linksintellektuellen Milieu anhand der identifizierbaren Gesprächsteilnehmer und deren Zugehörigkeit zu politischen Gruppen, die jeweils den Milieus eindeutig zuzuordnen waren. Die Protokolle aus dem Kommunemilieu waren ausnahmslos als solche betitelt und wurden in szenetypischen Kontexten publiziert, was auch hier eine zweifelsfreie Zuordnung ermöglichte.

Das GerMov-Korpus wurde mit Hilfe des TreeTaggers tokenisiert, mit Wortarten-Informationen annotiert und lemmatisiert. Beim verwendeten Tagset handelt es sich um das Stuttgart-Tübingen-Tagset (STTS).  Darüber hinaus wurden einige Kategorien auf der Token-Ebene wie Kommunikationsverben, Intensivierer und Schlagwörter der Neuen Linken annotiert.

Textclustering mittels komplexer n-Gramme

Berechnungsparameter: Berechnet wurden komplexe Pentagramme ohne Leerstellen, die aus den Dimensionen Wortarteninformation (einschließlich semantischer Klassen) und Wortformen zusammengesetzt wurden, wobei auf der Dimension Wortform nur Funktionswörter und Satzzeichen in die Analyse einbezogen wurden. Auf die Dimension Lemma wurde gänzlich verzichtet. Die Pentagramme wurden über Satzgrenzen hinaus berechnet. Es wurden nur solche n-Gramme in die Analyse aufgenommen, die im Gesamtkorpus mindestens vier Mal auftraten. Um den Einfluss der Textlängendifferenz zu reduzieren, wurden für die hierarchische Clusteranalyse nach dem Ward-Verfahren die Frequenzen der n-Gramme nach der Textlänge gewichtet.

Nun aber zu den Ergebnissen der Clusteranalyse: Im folgenden Dendrogramm sind die Namen der Texte so gewählt, dass die anhand außersprachlicher Kriterien erfolgte Milieuzuteilung ersichtlich ist. „Linksintellektuell“ steht für das linksintellektuell-avantgardistische Milieu, „Hedonistisch“ für das hedonistische Selbstverwirklichungsmilieu. Die Ziffer im Anschluss an die Milieubezeichnung ist lediglich eine Identifizierungsnummer. Fünf der 21 Protokolle aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu stammen aus einer einzigen Kommue, der sog. Linkseckkommune. Sie wurden zusätzlich mit einem „l“ nach der ID gekennzeichnet.

Dendrogramm des Textclusterings anhand komplexer n-Gramme von Tonbandprotokollen der 68er-Bewegung

Dendrogramm des Textclusterings anhand komplexer n-Gramme von Tonbandprotokollen der 68er-Bewegung

Die Clusteranalyse zeigt, dass die Protokolle aus dem linksintellektuellen Milieu ein Cluster bilden, das sich deutlich von den Protokollen des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus unterscheidet. Innerhalb der Protokolle des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus bilden die fünf Protokolle aus der Linkeckkommune wiederum ein eigenes Cluster. Die größte Differenz jedoch besteht zwischen Protokoll 14 aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu und allen anderen Protokollen. Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Offensichtlich werden hier Effekte der Textlänge sichtbar. Das Protokoll Nummer 14 ist mit einer Länge von gerade einmal 71 Wörtern das kürzeste und enthält damit offenbar nicht hinreichend viel Text, um aus ihm eine für stilistische Analysen hinreichend große Menge an n-Grammen zu bilden. Die Gewichtung der Frequenz der auftretenden n-Gramme nach der Textlänge dürfte den Effekt noch verstärkt haben.

Geht man von der Annahme aus, dass den sozialstilistischen Unterschieden, auf deren Basis die Zuweisung der Texte zu Milieus erfolgte, auch kommunikationsstilistische Unterschiede korrespondieren, so deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das gewählte Verfahren dazu ziemlich gut geeignet ist, stilistische Unterschiede aufzudecken.

Man muss aber der Ehrlichkeit halber hinzufügen, dass die stilistischen Unterschiede in den Texten wirklich sehr ausgeprägt sind und auch bei einer einigermaßen aufmerksamen Lektüre hätten auffallen müssen. Wirklich überrascht war ich allerdings davon, dass sich alle Protokolle der Linkeckkommune tatsächlich in einem Cluster wiederfanden.


Ausführlich nachlesen kann man das Ganze übrigens hier:

Scharloth, Joachim / Noah Bubenhofer (2011): Datengeleitete Korpuspragmatik: Korpusvergleich als Methode der Stilanalyse. In: Ekkehard Felder / Marcus Müller / Friedemann Vogel (Hrsg.): Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen von Texten und Gesprächen. Berlin, New York: de Gruyter.

Scharloth, Joachim / Noah Bubenhofer / Klaus Rothenhäusler (2011): „Anders schreiben“ aus korpuslinguistischer Perspektive: Datengeleitete Zugänge zum Stil. In: Britt Marie Schuster / Doris Tophinke: Anders schreiben. Berlin: Erich Schmidt Verlag.




comments: Kommentare deaktiviert für Textklassifikation und Autorenidentifikation mit Hilfe komplexer n-Gramm-Analyse tags: , , , , , ,