Post-Privacy im 19. Jahrhundert: Das Kind im Glashaus

Posted on 23rd Februar 2012 in Überwachung und Sicherheit

Liebe Freunde der Sicherheit,

schon im 19. Jahrhundert wusste man um die heilsame Wirkung des Entzugs der Privatheit. Der Frankfurter Verleger und Kinderbuchautor Heinrich Oswalt liefert uns hierfür mit seiner moralisierenden Verserzählung „Das Kind im Glashaus“ von 1877 einen beeindruckenden Beleg. Der Text ist der Sammlung „Unter’m Märchenbaum: Allerlei Märchen, Geschichten und Fabeln in Reimen und Bildern“ entnommen und ist mit Bildern von Eugen Johann Georg Klimsch illustriert.



Das Kind im Glashaus

In Frankfurt lebt ein Glasermeister,
Herr Lebrecht Scheibenmann, so heißt er;
Der hat ein kleines Töchterlein,
Das wollte nie gewaschen sein.
Und kam mit Schwamm und Seif sein Gretchen,
Da lief davon das böse Mädchen;
Es warf sogar den Waschtisch um –
Das Wasser floß im Haus herum.





Da fing Herr Lebrecht Scheibenmann
Ein seltsam Haus zu bauen an,
Aus lauter Glas ein Haus, das, ach!
Durchsichtig war bis unters Dach.
Und in dies Glashaus setzte man
Das böse Töchterlein sodann.
Da blieben, um es anzusehn,
Die Leute auf der Straße stehn.
Von allen Seiten kamen sie,
Wenn’s jetzt beim Waschen wieder schrie;
Sie sah’n ins Glashaus all hinein
Und lachten: „Ei! wer wird so schrei’n!“
Am Nähtisch saß Frau Scheibenmann
Und warnte: „Jeder sieht dich an!“
Da schämte sich das Kind und lief
Im ganzen Haus herum und rief:
„Wo soll ich mich denn nur verstecken?
Man sieht mich ja in allen Ecken!
Das Dach, der Keller, jedes Zimmer
Ist ja von Glas! man sieht mich immer!“





Die Mutter sprach: „Mein liebes Kind!
Ein Mittel gibt’s, das hilft geschwind:
Wenn dich die Leute artig sehn
Dann werden sie vorübergehn;
Wirst du beim Waschen nicht mehr schrei’n,
Dann sehn sie auch nicht mehr herein:
Wirst du dich brav und gut benehmen,
Dann brauchst du dich nicht mehr zu schämen.
Ein artig Kind nur Freude macht;
Unart’ge werden ausgelacht!“ –
Das merkte sich das Töchterlein;
Es nahm sich vor, geschickt zu sein.
Und weil’s beim Waschen nicht mehr schrie,
Da lachten auch die Leute nie;
Denn jeder, der ins Haus jetzt blickt,
Der sieht ein Kind, das ganz geschickt.





Und habt Ihr selbst ein Kind, Ihr Leut‘,
Das bei dem Waschen immer schreit,
Sagts nur Herrn Lebrecht Scheibenmann,
Der schafft Euch gleich ein Glashaus an.

Und die Moral der Geschichte für unsere heutige Zeit? Alle Datenschutzkritiker dürfen sich bestätigt sehen. Und auch die letzten Verteidiger der Privatsphäre sollten endlich zugeben, dass Post-Privacy mehr ist als eine Zustandsbeschreibung, sondern ein Programm zur moralischen Besserung der Welt.


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One Response to "Post-Privacy im 19. Jahrhundert: Das Kind im Glashaus"

  1. Sarah sagt:

    Sehr amüsant! Grossartig, dass noch jemand in der analogen Mottenkiste wühlt, Brandaktuelles findet und es digitalisiert. Weiter so.