Kulturwissenschaften im Data-driven Turn: Zeitgeschichtliche Umbrüche in der ZEIT

Posted on 21st August 2012 in Linguistische Kategorien, Off Topic, Visualisierung

Liebe Freunde der Sicherheit,

Die Kultur- und Sozialwissenschaften befinden sich im Data-driven Turn. Das Arbeiten mit datengeleiteten Methoden steckt zwar noch in den Kinderschuhen, sein Potenzial wird aber immer sichtbarer und beflügelt die Phantasien von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Fortschritte in der Digitalen Bildverarbeitung ermöglichen es den Bildwissenschaften, typische Konfigurationen in visuellen Darstellungen datengeleitet zu ermitteln; der Wandel von Musik wird anhand von strukturentdeckenden Verfahren über große Mengen digitaler Musikstücke berechenbar; die Geschichteswissenschaft erfindet sich unter dem Label „Data Driven History“ neu; in der Soziologie werden Daten aus sozialen Netzwerken dazu benutzt, die lebensstilsspezifische Gliederung sozialer Gemeinschaften aufzudecken; und in der Kunstgeschichte lassen sich auf der Basis bildspezifischer Figurationen Kunstgeschmäcke, Sujets oder ganze Kunststile berechnen. Diese Entwicklungen haben das Potenzial, die Kultur- und Sozialwissenschaften nachhaltig zu verändern, weshalb wir von einem Data-driven Turn sprechen wollen.


Datengeleitete Methoden

Data-driven heißt, auf vorgängige Hypothesen zu verzichten, induktiv Strukturen in den Daten zu ermitteln und im erst im Anschluss zu kategorisieren und zu interpretieren. Dadurch geraten Evidenzen in den Fokus, die entweder quer zu den vorher existierenden Erwartungen stehen und die Grundlage für neue Erklärungsmodelle sein können, oder im besten Fall sogar solche Evidenzen, die die Bildung alternativer Analysekategorien nahelegen. Für die Kultur- und Sozialwissenschaften bedeutet der Data-driven Turn, dass sie ihren Datenhunger nicht mehr mit Hinweis auf forschungspraktische Grenzen (begrenzte Ressourcen für Lektüre und Codierung) limitieren müssen. Je mehr Daten, desto besser! Das bedeutet freilich auch: hermeneutische oder dekonstruktive Lektüre jedes einzelnen Exemplars ist unmöglich.


Beispiel: Frames im ZEIT-Archiv

Zusammen mit David Eugster und Noah Bubenhofer habe ich mir das ZEIT-Archiv (1946-2011) vorgenommen, um zu untersuchen, ob sich zeitgeschichtliche Umbrüche berechnen lassen. Hierfür haben wir die Veränderung des Auftretens von Frames und ihrer Vernetzung untersucht. Mit dem Ausdruck „Frame“ bezeichnen wir Interpretationsschemata, mit deren Hilfe wir Erfahrungsdaten verarbeiten. Durch Framing werden Informationen für uns überhaupt erst sinnhaft. Wir beschäftigen uns im Folgenden also mit dem Wandel von Realitätskonstruktionen in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Frames werden durch bestimmte Indikatoren aktiviert — wir haben sie anhand der Distribution von Lemmata in Zeitungstexten identifiziert.


Umbrüche

Umbrüche nennen wir jene Zeiträume, in denen sich besonders große Verschiebungen im Frame-Haushalt beobachten lassen. Wir haben sie anhand der jahresweisen Differenzbeträge berechnet: einmal mit relativen Frame-Frequenzen, einmal mit normalisieren relativen Frame-Frequenzen. Während bei der Berechnung der Differenzbeträge der relativen Frequenzen die hochfrequenten Frames ein höheres Gewicht haben, werden bei der Berechnung der Differenzbeträge der normalisierten Frequenzen alle Frames gleich gewichtet. Wie die folgende Grafik belegt, führen aber beide Berechnungsmethoden zu ähnlichen Ergebnissen:



Jährliche Summen der Differenzbeträge aller Frames im Vergleich zum Vorjahr
im Print-Archiv der ZEIT, 1946-2011. Oben: relative Frequenzen,
Unten: normalisierte relative Frequenzen.



Die Grafiken zeigen, dass in den Jahren 1957-1959 (mit Schwerpunkt 1959), 1970, 1981, 1992 und 2008-2010 (mit Schwerpunkt 2008) besonders starke Veränderungen im Framehaushalt im Vergleich zu den Vorjahren zu beobachten sind. Auch die Jahre 2001-2003 können, wenn auch leicht abgeschwächt, als Jahre der Veränderung gelten. Diese Zunahmen im Differenzbetrag deuten wir als Indikatoren für eine starke Veränderung in der semantischen Matrix und damit als Umbrüche im oben beschriebenen Sinn. Insbesondere bei den Umbrüchen von 1969/70, 1980/81 und 1991/92 sind in den folgenden Jahren nur vergleichsweise geringe Veränderungen zu beobachten, während nach den Umbruchjahren 1957-1959 und 2008-2010 eine allmähliche Verringerung der Variation zu beobachten ist.
Einige dieser anhand der Frameanalyse identifizierten Umbruchjahre lassen sich auf zeitgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen beziehen: der Umbruch von 1969/70 könnte als Folge der 68er-Bewegung gedeutet werden, die Veränderungen von 1991/92 als Nachwirkung der deutschen Einheit, die Variation in den Jahren 2001 bis 2003 als Effekt der Terroranschläge vom 11. September 2001 und die starken Veränderungen nach 2008 als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise. Bei den Umbruchjahren 1957 bis 1959 und 1980/81 ist es jedoch schwieriger, eine plausible zeithistorische Begründung zu finden. Können hier Wiederbewaffnung und Diskussion um die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen, europäische Integration (1957-1959) und NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung (1980/81) als Erklärung herangezogen werden?


Detailanalyse

Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man detailliert untersucht, welche Framekonstellationen sich in den Umbruchsjahren besonders stark verändern. Wir haben die Veränderungen mit Hilfe von Kollokationsgraphen visualisiert, was ich im Folgenden am Beispiel des Umbruchs 1991/1992 illustrieren will: Wir haben einen Frame-Kollokationsgraphen für den ersten Zeitabschnitt (1991) und einen für den zweiten Zeitabschnitt (1992) berechnet und die beiden Rhizome zu einem gemeinsamen Graphen vereint, in dem die spezifischen Frame-Kollokationen der Umbruchjahre hervorgehoben sind. Wie die folgende Abbildung zeigt, lassen sich in diesem Graphen drei Cluster identifizieren, in denen besonders viele für das Umbruchjahr 1992 spezifische Frame-Kollokationen verdichten.



Frame-Kollokationen im ZEIT-Archiv der Jahre 1991 und 1992.
Spezifische Frame-Kollokationen des Jahrs 1992 sind schwarz hervorgehoben.



Besonders interessant erscheint uns das Cluster 2, das sich um die Frames „Freiheit“ und „Nation“ formiert.



Frame-Kollokationen im ZEIT-Archiv der Jahre 1991 und 1992, Cluster 2.
Spezifische Frame-Kollokationen des Jahrs 1992 sind schwarz hervorgehoben.



Der Frame „Nation“ ist dabei erwartbar stark verbunden mit dem „Freiheits“-Frame, welcher wiederum soziologische Frames wie „Mittelschicht“ und politisch-rechtliche wie „Grundsatz“ um sich bündelt aber auch jenen der „Befreiung“. Zugleich entsteht 1992 um den Frame „Nation“ eine Verbindung mit Frames wie „Mode“ und „Geschmack“, „Kunstsinn“, „Kulturelle Entwicklung“. Damit öffnen sich die Verbindungen die der Frame „Nation“ eingeht im Gegensatz zur Situation im Jahr 1991: Im jahresspezifischen Rhizom finden sich keine solchen typischen Bezüge: „Nation“ verbindet sich mit „Herrschen“ und „Politik“. Darin zeigt sich eine Wandel der Konstruktion des Nationalen von einer auf politischem Handeln gründenden staatlichen Einheit (1991) hin zu einer stärker über kulturelle Werte definierten nationalen Gemeinschaft (1992). Zugleich macht das Rhizom Erfahrungsmöglichkeit der Nation und ihrer Wiedervereinigung auf der Ebene persönlicher sinnlicher Konsumerfahrung sichtbar.


Web-Monitoring

Die dargestellten Methoden spielen auch in der sogenannten Sicherheitsinformatik im Bereich Webmonitoring eine Rolle. Veränderungen in den Aktivitätsmustern von Usern und im Themenspektrum von Online-Diskussionsforen können so aufgespürt und auf Kritikalität hin untersucht werden.


Zum Nachlesen

Das Preprint zum Aufsatz zur ZEIT-Analyse ist online verfügbar.

Weitere Analysen zum ZEIT-Archiv auf diesem Blog:


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Off Topic: Stromsparen in Japan – Die Atomindustrie hilft!

Posted on 5th August 2012 in Off Topic

Liebe Freunde der Sicherheit,

Die japanischen Atomkraftwerkbetreiber gehen in die Charmeoffensive. Damit wir stromsparend ohne Klimaanlage gut durch den heißen japanischen Sommer kommen, beschenken sie uns mit sympathischen und überaus praktischen Giveaways. Den modischen Fächer ziert auf der einen Seite ein charmantes Figurenensemble, das sich für ein sommerliches Matsuri in Schale geworfen hat, auf der anderen Seite das Atomkraftwerk unseres Vertrauens. Kawaii!



Praktisches Giveaway der japanischen Atomindustrie

Praktisches Giveaway der japanischen Atomindustrie



(Gesehen im Tsubaki no Yu in Matsuyama.)


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DIE KLAU MICH SHOW – dOCUMENTA(13)

Posted on 25th Juni 2012 in Off Topic, Politik, Terrorismus

Liebe Freunde der Sicherheit,

ich war in den letzten Wochen leider sehr beschäftigt. Unter anderem damit, nach Kassel zur dOCUMENTA(13) zu reisen. Dort durfte ich als Gast an der KLAU MICH SHOW (Radicalism in society meets experiment on TV) teilnehmen, einem Projekt von Dora Garcia. Weitere Gäste waren Rainer Langhans (Kommune I usw.) und Jessica Miriam Zinn (Piratenpartei Berlin), Jan Mech spielte souverän den Talk- und Showmaster.

Es ging um Eigentum und Diebstahl, Hedonismus und Spaßguerilla, Körper und Vergeistigung, Politik und Utopie, 1968 und Piraten. (Über Letztere hatte ich ja schon einmal geblogt.) Das Video ist online:



DIE KLAU MICH SHOW, dOCUMENTA(13)

DIE KLAU MICH SHOW, dOCUMENTA(13), 22. Juni 2012, Screenshot



Der Titel der Show zitiert den Titel des Buches „Klau mich“ der Kommune I. Die Kommune I war eine „Lebensgemeinschaft junger Maoisten“, die 1967 bis 1969 durch medienwirksame Protestinszenierungen und einen ostentativ hedonistischen Lebensstil einen großen Einfluss auf die 68er-Bewegung hatte und viel Aufmerksamkeit provozierte. Eine ihrer Provokationen war ein Flugblatt, in dem sie anlässlich eines Kaufhausbrandes in Brüssel mit etlichen Toten fragte „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ Die Autorinnen und Autoren behaupteten, Anti-Vietnamkriegsaktivisten hätten das Feuer gelegt, um den „saturierten Bürgern“ zu vermitteln, wie sich das Leben in Vietnam anfühlt, um den Krieg vom anderen Ende der Welt in die westlichen Metropolen zu tragen. „Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk beim der Frühstückszeitung zu vergiessen“, heißt es im Flugblatt. „Ab heute geht sie in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidkabine an.“ Die Staatsanwaltschaft sah darin eine Anstiftung zur Brandstiftung und klagte Rainer Langhans und Fritz Teufel an. Es kam zu einem Prozess, den die beiden Kommunarden als Bühne für eine bis dahin nicht dagewesene Anti-Justiz-Show benutzten. Sie spielten virtuos auf der Klaviatur des Antiritualismus und brachten Richter, Staatsanwaltschaft und Zeugen mehrfach zur Verzweiflung. Den Prozessverlauf, die Einvernahmen und die Medienberichte rekonstruierten sie im Buch „Klau mich“.

In der Klau Mich Show am 22. Juni war Rainer Langhans zu Gast. Weil ich mich mit dem Prozess in meinem Buch „1968. Eine Kommunikationsgeschichte“ ausführlich beschäftigt habe und auch sonst viel zu viel über performative Praktiken als Medium des Protests geschrieben habe, wurde ich als Gast eingeladen. Weil Rainer Langhans keine Nostalgie-Show wollte, kam auch Jessica Miriam Zinn von der Piratenpartei Berlin als Gast.

Die Klau Mich Show hat ihre eigenen Rituale entwickelt: die Mitglieder des Theater Chaosium, die am Anfang über die Bühne auf die Plätze für das professionelle Publikum (Chor und Jury) gehen, die reißerische Ansage der Gäste, der kleine Dialog mit der Show-Stewardess Tabu oder die vom Theater Chaosium moderierten Übergänge, das bunte Finale. Beim Sehen von nur einer Folge erzeugen sie Irritationen, wie bei den Studierenden meines Semis, in Serie machen sie den Charme der Show aus. Anders als die Kommune I früher fügen sich in der Klau Mich Show die Gäste in die Rituale.

Ritualkritik und Antiritualismus waren nämlich wichtige Charakteristika der 68er-Bewegung. Durch Rituale nämlich aktualisieren Gemeinschaften ihre Ordnung und versichern sich ihrer Werte. Durch die performative Kraft der Rituale werden Identitäten konstruiert, durch sie erhalten sie den Anschein von Faktizität. Wer also die Gesellschaft und ihre Werte verändern will, der muss ihre Rituale kritisieren, verändern oder durch neue Rituale ersetzen.

Die 1960er Jahre waren die Zeit der Entdeckung des Performativen: in der Kunst wurde mit performativen Praktiken experimentiert, um dem Funktionieren von Zeichenprozessen nachzuspüren. Soziale Bewegungen nutzten Ritualstörungen und Antirituale, um unsichtbare gesellschaftliche Schranken bewusst zu machen und ihre Beseitigung im Hier und Jetzt vorwegzunehmen. So stilisierte Rudi Dutschke in der deutschen 68er-Bewegung die performative Regelverletzung zum Medium der Selbstaufklärung der Aktivisten und zum Schlüssel ihrer individuellen Veränderung. Aber auch die Wissenschaft theoretisierte nicht nur, sondern nutzte performative Praktien wie Krisenexperimente (Garfinkel), um grundlegende Organisationsprinzipien der menschlichen Interaktion aufzudecken. Auch das Nachspiele von Ritualen wurde in der performativen Ethnologie als Erkenntnisquelle benutzt.

Das erste Thema der Show war dann auch die Theatralität selbst und das vergemeinschaftende Potenzial von Ritualen. Showmaster-Darsteller und Moderator Jan Mech holte das Publikum auf die Bühne und ließ es wie Woof im Musical Hair „We are all one“ rufen. Diese Durchbrechung der vierten Wand der Guckkastenbühne war als ein Re-enactment der Vorgänge am Ende der Hair-Aufführungen in den späten 60ern und frühen 70er Jahren gedacht, wo die Zuschauer auf die Bühne kamen, um mitzutanzen.

Der Gegensatz von Zuschauer und Mitwirkendem, von Bühnenraum und Zuschauerraum, von realer Welt und Spiel wurde aber gleich wieder hergestellt, als die eingeladenen Gäste zu einer Ballade (sinnreich: Seeräuber, Brecht) auf die Bühne kamen. Rainer Langhans wurde zum Star gemacht, der erstmal ein Autogramm geben muss. Deshalb durfte er auch in der Mitte sitzen.

Dann ging es um die Nazivergangenheit und den Generationenkonflikt und um die Frage des Privateigentums, bei der sich Jessica Miriam Zinn im Namen der Piratenpartei wehrte, in einer Tradition mit den 68er gesehen zu werden. Implizit wurde dabei die Frage verhandelt, ob durch die 68er ein Wertewandel hin zu einer Auflösung des Eigentumsbegriffs eingesetzt hat, der die Piratenpartei erst ermöglichte; denn die Piratenpartei bezieht sich positiv auf die urheberrechts-/copyright-kritische Bewegung in Schweden, aus der heraus der BitTorrent-Tracker „The Pirate Bay“ und die schwedische „Piratpartiet“ entstanden sind.

Ob sich die Piratenpartei Deutschlands die 68er, speziell die Kommunebewegung, als Tradition aneignen will, ist letztlich eine politische Frage, denn die Aneignung von Traditionen sind Identitätsakte. Der Anspruch auf Transparenz und die Utopie einer tiefer gehenden Demokratie verbindet beide Bewegungen, wie ich an andere Stelle ausgeführt habe. Gleichzeitig würde sich die Piratenpartei aber wohl dem Verdacht ausgesetzt sehen, offen zu sein für Ideen wie die Abschaffung des Eigentums, die Aufgabe der Privatsphäre und einem Anspruch auf radikale Veränderung jedes Einzelnen und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei ist das Narrativ für die Verbindung von digitalem Aktivismus und 68er-Bewegung längst vorhanden: Der Chaos Computer Club wurde am 12. September 1981 in den Redaktionsräumen der taz gegründet — am Tisch der Kommune I.

Aber zurück zur Klau Mich Show: Theatral wurde es wieder, als der Körper in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt wird. Rainer Langhans vertritt seine These von der Vergeistigung der Kommune. Leider kam ich nicht dazu zu sagen, dass ich die Kommune für sehr körperlich halte, nicht nur wegen ihres ostentativen Hedonismus sondern auch wegen der bewussten Inszenierung ihrer Körper als nicht-, ja antifaschistisch. Haben sich die Grenzen des Anstands seit den 60er Jahren nicht nur im Hinblick auf das Eigentum, sondern auch im Hinblick auf den Körper verschoben? Dieser Frage wollte der Showmaster näher kommen, inderm er eine Zuschauerin bat, sich so weit zu entblößen, wie es ihrer Meinung nach Scham und Anstand zuließen. Als Jessica Miriam Zinn den Moderator aufforderte, es der Zuschauerin gleich zu tun, entkleidete auch er sich. Der performative Effekt seiner partiellen Nacktheit war jedoch ein diskursiver Kontrollverlust, der erst nach Wiederanlegen der Hose überwunden wurde.

So lieferte die Show selbst einen Beleg für die (de)konstruktive Kraft von (Anti-)Ritualen, mithin dafür, dass das Durchbrechen von Ritualen das Potenzial hat, Ordnung ins Wanken zu bringen. Die Klau Mich Show changiert wunderbar zwischen Ironie und Ernst, zwischen Anstand und Zumutung, zwischen Gespräch und Performance, zwischen Anspruch und Unterhaltung. Sie ist aber nichts von alledem. Sie ist ein Muss für alle dOCUMENTA-Besucher, die realen wie die virtuellen.

Noch ein paar persönliche Anmerkungen: Den Studierenden der Dokkyo sei noch einmal gesagt, dass ich nicht der Moderator bin und dass das Musical „Hair“ nicht wegen mir ein Leitmotiv der Show war. Ich habe die Performance des Theater Chaosium am Anfang nicht verstanden, fand den Kalauer aber sehr lustig. Einmal habe ich in die Kamera gewinkt, um die Studierenden zu grüßen. Ich habe ziemlich viel auf dem Drehstuhl herumgewackelt. Und ja, ich weiß, das Taschentuch…


Vorher war ich an der TU Dresden, wo ich ab 1.10. eine Professur für Angewandte Linguistik antreten werden, zu einem Vortrag zum Thema „Autorenidentifizierung und Autorschaftsverschleierung. Maschinelle Methoden in der forensischen Linguistik und Möglichkeiten ihrer Überlistung“. Aus diesem Anlasse gibt es demnächst wieder mehr Posts zu technischen Fragen.


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Kommunikationsformen und die Utopie von einer anderen Demokratie: Piraten, Grüne und 68er

Posted on 16th April 2012 in Off Topic, Politik

Wer nachhaltig für seine politischen Ziele mobilisieren will, der braucht Kommunikationsformen, die die Utopie von einer anderen Demokratie glaubhaft symbolisieren.


1968

Als am 15. September 1967 einige hundert junge Menschen versuchten, mit einem Go-in in die Sondersitzung des Abgeordnetenhauses Berlin im Schöneberger Rathaus einzudringen, gaben sie vor, dies nicht zur Durchsetzung vorher abgestimmter politischer Ziele zu tun. Sie skandierten vielmehr „Wir wollen diskutieren“.

„Diskutieren“ war das Fahnenwort der 68er-Bewegung. Diskutieren war gleichbedeutend mit dem Praktizieren von Demokratie. In einem Berliner Flugblatt mit dem Titel „Warum wir demonstrieren — Warum wir diskutieren“ formulierte eine Studentin: „eine demokratie funktioniert nicht durch verbote, sondern durch argumentation und gegenargumentation — auch, wenn diese anregungen von einer minderheit ausgehen.“ Das Politikverständnis, das in der Formel „Demokratie ist Diskussion“ sinnfälligen Ausdruck erhielt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Demokratische Entscheidungen erhalten ihre Legitimität allein aus der Ratio des besseren Arguments, der sich eine ggf. irrende Mehrheit unterwerfen muss.



Ausschnitt aus einem diskussionskritischen Flugblatt der Kommune I



Das Go-in in die Sitzung des Abgeordnetenhauses Berlin zeigt zudem, dass die Parlamente in den Augen der 68er nicht der Ort waren, in denen sich das bessere Argument Geltung verschaffen konnte. Die außerparlamentarische und in weiten Teilen auch antiparlamentarische Bewegung setzte vielmehr auf nicht-repräsentative Formen diskursiver Meinungsbildung, etwa das Teach-in. Das Teach-in war eine Form der politischen Massendiskussion, die ohne Beschränkung der Teilnahme und des Rederechts auskommen wollte und in der nicht der Diskussionsleiter, sondern alle Teilnehmer demokratisch über Inhalte und Verfahrensfragen entscheiden sollten.

Diskutieren innerhalb der Bewegung repräsentierte einen hierarchiefreien, egalitären Umgang zwischen den Gesprächspartnern und versprach Erkenntnisgewinn. Diskussionen mit den politischen Gegnern wurden eingefordert, um deren mangelndes Demokrativerständnis zu entlarven. Natürlich waren im einleitenden Beispiel die Berliner Parlamentarier nicht bereit, mit den Protestierenden im Rahmen einer Abgeordnetenhaussitzung zu diskutieren, was die Aktivisten als Beleg ihrer undemokratischen Haltung und der in ihren Augen völlig ungenügendenden Partizipationsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie denunzieren konnten. Diskussion forderten die Aktivistinnen und Aktivisten überall dort ein, wo Autorität oder Tradition in ihren Augen größeres Gewicht hatten als das bessere Argument:

  • In Vorlesungen und Seminare, in denen Wissen ex cathedra verkündet und nicht diskursiv verhandelt wurde.
  • Bei Immatrikulationsfeiern, in denen die Ordinarien die Hochschule feierten, Studenten aber kein Rederecht hatten.
  • In Parlamentssitzungen, in denen über, aber nicht mit den Aktivisten debattiert wurde.
  • In Gottesdiensten, in denen zwar Frieden gepredigt wurde, die Gräuel des Vietnamkrieges aber unerwähnt blieben.
  • In Gerichtsverhandlungen, in denen von Angeklagten unter Androhung von Strafe die totale Unterordnung in die in Gerichten geltenden Verhaltensnormen verlangt wurden.

Selten wurde die Forderung freilich erfüllt und so entstanden kritische Ereignisse, die erheblich zur Mobilisierung und Radikalisierung der Bewegung beitrugen.

Diskutieren im Sinne einer argumentativen und kontroversen Aussprache wurde von den Aktivisten zu einer Praxis erhoben, deren Symbolwert mindestens so groß war wie ihre kommunikative Funktion. Allein der formale Vollzug der Aussprache erfüllte bereits einen Zweck. Diskutieren war damit (auch) ein Ritual, über das sich die Protestbewegung definierte, ein Ritual durch das sie sich von den Etablierten zu unterscheiden glaubte, ein Ritual, das mobilisierte und integrierte.


DIE GRÜNEN

Auch als DIE GRÜNEN 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, sorgten sie nicht nur wegen ihrer politischen Inhalte für Aufsehen, sondern auch wegen der Formen ihrer politischen Kommunikation. Zur konstituierenden Sitzung des 10. Bundestages am 29. März 1983 zogen die Abgeordneten — einem Demonstrationszug gleich — vom Bonner Hofgarten ins Regierungsviertel und ließen sich dabei symbolisch von der Basis begleiten. In ihrem Selbstverständnis war die Partei nämlich lediglich ein Ast des mächtigen Baumes der neuen sozialen Bewegungen, der in die Parlamente hineinwuchern sollte. In der Präambel des Bundesprogramms von 1980 heißt es: „Wir halten es für notwendig, die Aktivitäten außerhalb des Parlaments durch die Arbeit in den Kommunal- und Landesparlamenten sowie im Bundestag zu ergänzen. […] Wir werden damit den Bürger- und Basisinitiativen eine weitere Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Anliegen und Ideen eröffnen.“

Die Grünen inszenierten sich als „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) und waren ihrem Selbstverständnis nach „die Alternative zu den herkömmlichen Parteien“ (Präambel des Bundesprogramms von 1980). Der Antiparlamentarismus speiste sich aus der Kritik an einer politischen Klasse, die den Interessen von Wirtschaft und Kapital diente, an einem Repräsentationsprinzip, das die Abgeordneten nicht auf den Willen der Volkes verpflichtete, und an einer Professionalisierung der Politik, die die Durchsetzung neuer Ideen verhinderte. Um eine Korrumpierung der eigenen Abgeordneten durch das parlamentarische System zu verhindern, fassten die Grünen im Januar 1983 die sog. Sindelfinger Beschlüsse. Demnach sollten die Abgeordneten ihr Mandat nur zwei Jahre wahrnehmen und dann für ihre Nachfolger Platz machen (Rotationsprinzip), in ihrem Abstimmungsverhalten und in ihrer sonstigen parlamentarischen Tätigkeit an die Beschlüsse der Basis gebunden sein (imperatives Mandat) und nur so viel verdienen wie ein Facharbeiter (Diätenbegrenzung). Daneben beschlossen die Grünen auch eine Trennung von Parteiamt und Mandat, um eine Machtkonzentration auf wenige Personen zu verhindern.

Auch in kommuniktiver Hinsicht setzten die Grünen alles daran, sich als basisdemokratische Partei zu inszenieren. Sie benannten keine Spitzenkandidaten für Wahlen, druckten keine Köpfe auf Wahlplakate, und gaben der Partei auf Bundes- und Länderebene kollektive Führungen aus zunächst je drei Vorsitzenden, die jedoch den Titel „Sprecher“ führten, um zu betonen, dass diese eigentlich keine Macht besäßen, sondern nur die Beschlüsse der Basis nach außen kommunizierten.

Die Grünen verschrieben sich zudem dem Prinzip der Transparenz: Statt Delegiertenversammlungen sollten ausschließlich Mitgliederversammlungen abgehalten werden; die „Mitgliederoffenheit der Sitzungen und Gremien auf allen Ebenen“ ist im Bundesprogramm 1980 festgeschrieben. Zudem sollten die Versammlungen der Grünen nicht nur den Mitgliedern, sondern allen interessierten Menschen offen stehen. Auch die ersten Fraktionssitzungen der Grünen im Bundestag waren öffentlich. Neben zahlreichen Pressevertretern nahmen auch die Nachrücker, Fraktionsmitarbeiter und Vertreter der Basis an den Sitzungen teil, die in der Anfangszeit nicht selten 10 bis 15 Stunden dauerten.

Und sie bedienten sich selbstverständlich weiterhin aktionistischer Formen der Politik. Zur konstitutierenden Sitzung des 10. Bundestages zog einer „eine spindeldürre, nadellose Fichte hinter sich her. Zwei andere rollten eine überdimensionale Weltkugel. Viele trugen Blumen.“ erinnert sich Ludger Vollmer in seinem Buch „DIE GRÜNEN. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei — Eine Bilanz“ (2009) an die Prozession ins Regierungsviertel. Am 15. Juli 1983 setzten sich Petra Kelly und Gert Bastian zusammen mit Wolf Biermann in einen Käfig und ketteten sich an den Zaun des Bundeskanzleramts, um gegen die Auslieferung eines Kurden an die Türkei zu demonstrieren.

Auch die Grünen benutzten also neue Kommunikationsformen und kommunikative Rituale, um ihre Identität als basisdemokratische Anti-Parteien-Partei und als parlamentarischer Ausleger der neuen sozialen Bewegungen zu symbolisieren. Die öffentlichkeitswirksamen Inszenierungen und Provokationen bescherten ihnen Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit.

Den neuen Kommunikationsformen der 68er und der Grünen wohnte ein utopisches Moment inne: sie schienen das Versprechen zu geben, dass eine qualitativ andere Demokratie möglich ist. Eine Demokratie, die dem besseren Argument verpflichtet ist, die allen Menschen Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen ermöglicht und in der die Entscheidungsfindung sich transparent vollzieht.


Und die Piraten

Wirft man einen Blick auf die Anfänge der Grünen, dann erscheint die Piratenpartei nur noch wenig originell. Vorsitzende, die sich als Sprecher verstehen und sich an die Voten der Basis gebunden fühlen, die Verpflichtung der Mandatsträger auf den Willen der Basis, öffentliche Fraktionssitzungen, Transparenzversprechen und öffentlich ausgetragene Streitigkeiten — das alles gab es schon bei den Grünen und sogar radikaler als bei den Piraten heute.

Dennoch verkörpert auch die Piratenpartei die Utopie einer anderen Demokratie. Und zwar weniger durch ihr politisches Programm als vielmehr durch die Formen der innerparteilichen Kommunikation und Entscheidungsfindung. Mit neuen technischen Mitteln wird der Versuch unternommen „Entscheidungen nicht im Rahmen von Vertreterversammlungen zu treffen, sondern einen basisdemokratischen Ansatz auch bei steigenden Mitgliederzahlen umsetzen zu können“, wie es im Piratenwiki zum Schlagwort Liquid Democray heißt. Dabei wird das Prinzip der Basisdemokratie um die Möglichkeit der Delegation der eigenen Stimme für bestimmte Themen oder Politikfelder ergänzt. Auch die Piratenpartei versucht die Utopie einer direkten Demokratie (Möglichkeit der Beteiligung aller Mitglieder an der Entscheidungsfindung) zu verwirklichen und setzt darauf, dass sich in Systemen wie LiquidFeedback Kompetenz (delegated voting) und der besser argumentierende Antrag Geltung verschaffen werden. Die innerparteiliche Kommunikation soll am Ende ein Modell für die Demokratie als Ganze sein.

68er, Grüne und Piraten haben in ihrer jeweiligen Zeit Kommunikationsformen besetzt und zu ihrem Markenzeichen gemacht, die Ausdruck eines alternativen Demokratieverständnisses waren, das gemessen an der Realität der parlamentarischen Demokratie durchaus als utopisch gelten kann. Es ist dieser durch die alternativen Kommunikationsformen symbolisierte Anspruch, der den neuen Bewegungen und Parteien ihr Charisma verlieh und verleiht und den neugegründeten Parteien eine so schnelle Mobilisierung von Wählern ermöglichte.

Freilich: Debatten mit den politischen Gegnern waren in den späten 60er und frühen 70er Jahren selten herrschaftsfreie rationale Diskussionen, sondern hatten häufig Tribunalcharakter. Und die Grünen haben Rotation, imperatives Mandat und öffentliche Fraktionssitzungen schnell wieder abgeschafft. Auch LiquidFeedback ist bei den Piraten längst keine allgegenwärtige Plattform zur politischen Meinungsbildung. Und dennoch: Der Anspruch ist symbolisch formuliert, das Versprechen, alles besser machen zu wollen, ist gegeben. Ob es gehalten wird, das wird die Zukunft zeigen. Das Symbol aber wirkt schon in der Gegenwart.


Das ökonomische 9/11: Fnord in der ZEIT im Verhältnis zum DAX

Posted on 16th Februar 2012 in Off Topic

Liebe Freunde der Sicherheit,

vor einiger Zeit habe ich eine kleine Statistik vorgelegt, die zeigte, dass in SPIEGEL Online der Angstindex im Ressort Politik seit dem 11. September 2001 auf einem höheren Niveau verharrt, als vorher. Der Angstindex ist eine simple Größe: er repräsentiert die relative Frequenz von mehr als 800 potenziell Angst verbreitenden Wörtern und n-Grammen. Ein Angstindex von 0.002 bedeutet, dass jedes 500. Wort das Potenzial hat, auf Sachverhalte zu verweisen, die angstbesetzt sind. Interessant war, dass mit der Finanzkrise der Angstindex im Ressort Wirtschaft erstmals über den im Ressort Politik kletterte.

Natürlich habe ich mich – so wie einige Kommentatoren – gefragt, ob die beobachteten Entwicklungen schon früher bei besonderen Ereignissen in ähnlicher Form auftraten oder ob sie als historisch einmalig und damit als Zeitphänomen gedeutet werden müssten. Da verlässliche Daten für SPON nur für die letzten 12 Jahre zu haben sind, habe ich mir das ZEIT-Archiv vorgenommen und den Fnord-Index seit den 1960er Jahren untersucht. Die folgende Grafik zeigt einen Vergleich des Angstindexes in den Ressorts Politik und Wirtschaft:



Angstindex im ZEIT-Archiv: Vergleich der Ressorts Politik und Wirtschaft



Auf den ersten Blick sieht man, dass auch in der gedruckten ZEIT der Angstindex im Ressort Wirtschaft seit Ausbruch der Finanzkrise über den im Ressort Politik geklettert ist. Anders als bei SPON geht der Angstindex im Politik-Ressort der ZEIT nach dem Maximum nach 9/11 wieder deutlich zurück und steigt erst wieder mit dem Beginn der Finanzkrise.

Betrachtet man die Entwicklung des Angstindex im Ressort Wirtschaft genauer, dann zeigen sich die monströsen Ausmaße, die die ZEIT der Finanzkrise zuschreibt.



Angstindex im ZEIT-Archiv, Ressort Wirtschaft



Niemals vorher kletterte der Angstindex auf ein so hohes Niveau und verharrte dort so lange: Die Ölkrisen, das Ende des Systems von Bretton Woods, das Platzen der Dotcom-Blase und sogar die Verunsicherungen nach dem 11. September 2001 erscheinen marginal angesichts der sich inzwischen über mehrere Jahre hinziehenden Finanz- und Wirtschaftskrise.

Legt man den (zurückberechneten) DAX über die Kurve des Angstindex, dann zeigt sich seit den späten 1990er Jahren ein Zusammenhang zwischen den beiden Kurven.



Angstindex im ZEIT-Archiv, Ressort Wirtschaft, und zurückberechneter DAX



Interessanterweise sieht es so aus, dass die Aktienkurse schon bei einem gleichbleibenden Angstindex steigen. Nur in Zeiten, in denen der Angstindex steigt, fallen die Aktienkurse. So ist der DAX trotz hohem Angstindex nach wie vor auf relativ hohem Niveau.

DISCLAIMER: Der monatliche Angstindex ist ein sehr grobes Messinstrument und ich behaupte nicht, dass er prognostische Qualitäten hat.


Metasprachliche markierte Ausdrücke in der ZEIT im Jahr 2011 und eine kleine Geschichte der BRD in Wörtern

Posted on 6th Januar 2012 in Allgemein, Linguistische Kategorien, Off Topic

Liebe Freunde der Sicherheit,

im vorletzten Post habe ich die Möglichkeit diskutiert, mittels metasprachlich markierter Ausdrücke Ideologien zu identifizieren, die von der herrschenden Semantik abweichen. Auch der publizistische Mainstream markiert Wörter oder Ausdrücke durch Anführungszeichen oder ein vorangestelltes „sogenannt“, wenn auch seltener. In Zeitungen werden vor allem neue, missverständliche oder inhaltlich umstrittene Ausdrücke markiert. Die folgende Wortwolke zeigt, welche Ausdrücke in der gedruckten ZEIT im Jahr 2011 markiert wurden:



Metasprachlich markierte Ausdrücke in der ZEIT (print) 2011



An der Wortwolke werden vor allem die wichtigsten Themen des Jahres sichtbar: Euro-Rettung, Terrorismus (Schuhbomber, Rucksackbomber, Kofferbomber und für uns Freunde der Sicherheit besonders interessant: Unterhosenbomber), arabischer Frühling, Atomkraft (Brückentechnologie, Restrisiko, Liquidator, Fukushima, Energiewende), Protestbewegungen (Wutbürgertum, Plärrer, Empörte) und Selbstverteidigungsminister KT. Es finden sich auch einige Klassiker: „drittes Reich“ und „Führer“ werden in den meisten Medien aus gutem Grund immer in Anführungszeichen gesetzt. Natürlich findet sich auch „alternativlos“ als Unwort des Jahres in der Liste.

Ich habe auch für die anderen Jahrgänge der Zeit solche wordclouds berechnet. In der Gesamtschau erhält man eine kleine Geschichte der Bundesrepublik und ihrer gesellschaftlichen Debatten in einer Liste von Wörtern.

Als Lesehilfe: Je häufiger ein Ausdruck markiert wurde, desto größer wird er dargestellt. In einem Jahr zum ersten mal als markiert auftretende Ausdrücke sind rot, im Vergleich zu den anderen Jahren signifikant häufig auftretende Ausdrücke sind braun gefärbt.





Interessant ist, dass in Jahren von Krisen und Umbrüchen besonders viele Ausdrücke metasprachlich markiert werden. Die Jahre 1966-1969, 1977, 1989/90 sind dafür ein Beleg. Zieht man den Anstieg der Markierungen im Jahr 2011 im Vergleich zu den Jahren vorher in Betracht, dann muss die Diagnose heißen: wir erleben zurzeit einen Umbruch, der den großen Krisenjahren der BRD vergleichbar ist.


Anmerkung: Eine Filterung der Listen war nötig, da insbesondere Buch- oder Filmtitel auch in Anführungszeichen gesetzt werden. Dies wurde mit Hilfe einer Stoppliste automatisiert, eine Nachbearbeitung von Hand war dennoch nötig.

Für bessere Lesbarkeit: jenseits des Blog-Layouts habe ich noch eine schlichte HTML-Seite gemacht.


In eigener Sache: Soziolinguistik der Stimme

Posted on 14th September 2011 in Off Topic

Liebe Freunde der Sicherheit,

Stimmerkennung wird immer häufiger auch in Sicherheitssystemen eingesetzt. Mich interessieren im Moment aber weniger die forensischen, sondern die sozialen Aspekte von Stimmen. Wer Zeit und Lust hat, ein kleines Forschungsprojekt zu unterstützen, den möchte ich bitten, folgenden Online-Fragebogen auszufüllen:



http://www.scharloth.com/voice/

Das dauert ca. 20 Minuten und ist ein bisschen anstrengend. Allen, die mitmachen, daher ein herzliches Dankeschön

Zu forensischen Aspekten der Stimmanalyse schreibe ich auf diesem Blog ausführlicher zu einem späteren Zeitpunkt. Versprochen!


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Off Topic 2: Noch mehr Fakten zu SPIEGEL Online

Liebe Freunde der Sicherheit,

semantisch bestimmte Wort- und Phrasenklassen lassen sich natürlich nicht nur zur Aufdeckung subversiver Tätigkeiten benutzen, sondern auch für ganz unnütze Dinge, etwa zur Analyse von Online-Medien. Im vorletzten Posting habe ich mir die Ressortentwicklung bei SPIEGEL-Online angeschaut und herausgefunden, was wir ohnehin schon alle wussten: das von uns so geliebte Ressort „Panorama“ wurde in den letzten 10 Jahren langsam aber stetig ausgebaut, so dass es inzwischen sogar mehr Artikel umfasst als Politik-Inland oder Politik-Ausland.

Heute möchte ich euch ein paar Zeitreihen zeigen, die man getrost als Indikator für journalistische Qualität ansehen kann. Die Zeitreihen wurden mit vergleichsweise einfachen Mitteln berechnet: Der Angstindex (man könnte ihn auch Fnordbarometer) zeigt die Anzahl von Wörtern und Wendungen an, die auf einschüchternde Sachverhalte hinweisen (Terror, Seuchen, Umweltkatastophen, Islamisten, Wirtschaftskrisen etc.). Wortschatzkomplexität habe ich mit dem Maß Yule’s K operationalisiert. Der Manipulativitätsindex setzt sich zusammen aus der Anzahl aus Wörtern und Phrasen, die auf Vermutungen bzw. unsicheres Wissen hinweisen (auch Mutmaßungsindex), der Anzahl metasprachlich markierter Wendungen (z.B. sogenannte freie Wahlen) und einer Reihe von Emotionalitätsindikatoren. Der Skandalisierungsindex beruht auf einer Taxonomie, die Lemmata (vor allem Verben und Adjektive) mit starken deontischen Dimensionen erkennbar macht. Die Wort- und Phrasenlisten wurden mit Hilfe maschineller Lernverfahren ermittelt.

Betrachtet man die Entwicklung von SPON von 2000-2010 so fällt zunächst auf, dass die durchschnittliche Wortschatzkomplexität pro Artikel im Trend allmählich abgenommen hat:



Durchschnittliche Wortschatzkomplexität in SPIEGEL-Online

Durchschnittliche Wortschatzkomplexität je Artikel in SPIEGEL-Online



Dafür nehmen die Indikatoren für einen stärker mutmaßenden, d.h. weniger faktengesättigten, und skandalisierenderen journalistischen Stil nach und nach zu:


Skandalisierung- und Mutmaßungsindex für SPIEGEL-Online

Skandalisierung- und Mutmaßungsindex für SPIEGEL-Online



Der Manipulativitätsindex im Ressort Politik verharrt seit Mitte 2009 auf einem Niveau, den er zwischenzeitlich nur kurz nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center hatte:


Manipulativitätsindex für SPIEGEL-Online, Ressort Politik



Interessant ist, dass der Angstindex im Ressort Wirtschaft den politischen Angstindex, der seit 9/11 auf erhöhtem Niveau verharrt, zweitweise im Zuge der Subprime-Krise überholt hat.



Fnord-Index für SPIEGEL-Online, Ressorts Politik und Wirtschaft

Fnord-Index für SPIEGEL-Online, Ressorts Politik und Wirtschaft



Diese Einsicht scheint zwar zunächst trivial, ist aber doch bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass für den SPIEGEL die größte Gefahr nicht mehr von Terroristen, sondern von der Hochfinanz ausgeht.


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Off Topic: Einige Fakten zu Spiegel Online – Statistik zur Ressortentwicklung von 2000-2010

Posted on 21st August 2011 in Off Topic

Liebe Freunde der Sicherheit,

heute mal etwas, was uns vom eigentlichen Thema des Blogs wegführt. Die am 25. Oktober 1994 als Onlineversion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel gegründet Plattform ist die meistgeklickte Nachrichtenseite im deutschen Sprachraum. Aber wo Erfolg und publizisitische Macht sind, dort ist auch Kritik. Stefan Niggemeier kritisierte letzthin die zunehmende Fixierung auf Spannung statt auf die Nachrichteninhalte. Und Fefe spricht schon lange nur noch vom „ehemaligen Nachrichtenmagazin“. Medienkritische Blogs und Zeitschriften befassen sich ebenfalls mit Spiegel Online, etwa die von Timo Rieg verantwortete Zeitschrift Spiegelkritik (SpKr) oder der vom Journalisten Torsten Engelbrecht betriebene Spiegel-Blog, in dem Recherchefehler und Einseitigkeiten in der Berichterstattung des Leitmediums kritisch reflektiert werden.

Für ein kleines Forschungsprojekt beschäftige ich mich zurzeit ein wenig mit dem Sprachgebrauch auf Spiegel Online. Gewissermaßen als Nebenergebnis habe ich eine Statistik über die Artikel- und Textmengen in den Ressorts des Online-Magazins in den letzten 11 Jahren berechnet. Um der Diskussion um Spiegel Online eine breitere empirische Basis zu geben, habe ich gedacht, ich stelle die Zahlen mal als Grafiken online.

Zur Quelle: Ich habe alle Artikel im Online-Archiv von Spiegel Online gezählt. Manche Ressort-Archive gingen zum Zeitpunkt des Crawlens bis auf das Jahr 1997 zurück. Allerdings war ich mir unsicher, wie vollständig die Archive waren. Andere Ressortarchive begannen erst mit dem Jahr 2000. Daher sind m.E. die Ergebnisse erst ab dem Jahr 2000 valide. Die durchschnittliche Wortzahl pro Artikel ließ sich natürlich auch schon vorher mit dem vorhandenen (selektiven) Material berechnen. Es rauscht immer ein bisschen in den Daten. Die vorgestellten Tendenzen sind aber eindeutig. Ich kommentiere die Ergebnisse nicht, das habe ich schon hinreichend durch meine Auswahl gemacht.

Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Artikelzahl in den jeweiligen Ressorts:


Spiegel Online: Absolute Anzahl Artikel je Ressort


Wenn man den prozentualen Anteil der Ressorts an der jährlichen Gesamttextmenge berechnet, dann ergibt sich folgende Grafik:


Spiegel Online: Anteil der Artikel der Ressorts an der Gesamtzahl der Artikel (jahresweise)


Für den, der es gerne etwas übersichtlicher hat: Hier mal die Entwicklung der Anzahl der Artikel in den Ressorts Panorama, Politik – Deutschland und Politik – Ausland:


Spiegel Online: Anzahl Artikel Panorama und Politik im Vergleich


Allerdings muss man der Fairness halber sagen, dass die Artikel im Ressort Panorama durchschnittlich kürzer sind, als die in den Politik-Ressorts. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen Artikellängen in den Ressorts. Interessant ist der Knick nach 2009:


Spiegel Online: Entwicklung der durchschnittlichen Wortzahl je Artikel in den Ressorts


Schaut man sich die Gesamtwortzahl an, die in den jeweiligen Ressorts produziert wurde, dann fallen die Unterschiede zwischen Politik und Panorama nicht so krass aus:


Spiegel Online: Entwicklung der Wortzahl in den Ressorts Panorama und Politik im Vergleich


Hier auch noch ein Blick auf die anteilsmäßige Verteilung der Wortzahl auf die Ressorts:


Spiegel Online: Entwicklung der Anzahl Wörter je Ressorts an der Gesamtwortzahl


Wer die Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Arbeit zitieren will, kann das so machen:
Scharloth, Joachim (2011): Einige Fakten zu Spiegel Online – Statistik zur Ressortentwicklung von 2000-2010. Online: http://www.security-informatics.de/blog/?p=372.
Ich schicke euch auch gerne die Zahlen zu. Aber WordPress und Tabellen sind halt keine Freunde und meine Zeit ist begrenzt. Die unveränderten Grafiken darf man natürlich verwenden, wenn die Quelle genannt wird.


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