Friederike Werner von ZEIT Online hat mich eingeladen, ein Wissensquiz zur Wortwahl, insbesondere zur Sprache der Herabsetzung und Ausgrenzung auszudenken.
Die korrekten Antworten und Erläuterungen habe ich auf hassrede.de zusammengestellt.
Computer- und korpuslinguistische Methoden des politisch motivierten Internet-Monitorings
Friederike Werner von ZEIT Online hat mich eingeladen, ein Wissensquiz zur Wortwahl, insbesondere zur Sprache der Herabsetzung und Ausgrenzung auszudenken.
Die korrekten Antworten und Erläuterungen habe ich auf hassrede.de zusammengestellt.
Liebe Freunde der Sicherheit,
Anfang der Woche war ich bei einer Polizei-Tagung der Evanglischen Akademie Hofgeismar zum Thema „Demokratie auf der Straße -‚Gutbürger trifft Gutpolizisten'“ eingeladen, um über das Medienimage der Polizei zu sprechen. Eine interessante Veranstaltung, bei der sich Aktivisten, Polizisten und Wissenschaftlerinnen in ungezwungener Atmosphäre begegnen und austauschen konnten. Bei meinem Vortrag zeigte sich, dass das Image der Polizei in den Medien nicht übereinstimmt mit dem Vertrauen, das ein großer Teil der Deutschen in die Insitution der Polizei hat. Denn in den Medien ist die Polizei der Prügelknabe — und dies in doppelter Hinsicht. Das habe ich versucht, am Beispiel des Spiegel (Print und SPON) zu illustrieren.
Allgemeine Frequenzentwicklung
Auch wenn jüngere Zeitgenossen glauben, die Polizei habe in den letzten Jahren wegen Stuttgart 21 und NSU-Desaster im Fokus der Berichterstattung gestanden, relativiert ein Blick auf die Verteilung der Lemmata „Polizei“, „Polizist“, „Polizeibeamter“ und „Ordnungshäter“ im Printarchiv des SPIEGEL diese Einschätzung.
Im langfristigen Trend geht die Berichterstattung über die Polizei zurück, auf Polizisten wird in etwa gleich häufig Bezug genommen. Auch wenn man sich die Berichterstattung über die Polizei auf Spiegel Online, Politik Inland, anschaut, zeigt sich, dass die Berichterstattung über die Polizei an einzelne Ereignisse gebunden ist und langfristig nicht zugenommen hat.
Interessant ist hier, dass die Berichterstattung über die Polizei nach der Eskalation in Stuttgart (im Graphen gelb markiert) von der Berichterstattung über die Castor-Transporte deutlich in den Schatten gestellt wird.
Wie wichtig die Protestbewegungen um 1968 für die Polizeiberichterstattung waren zeigt die folgende Grafik, die visualisiert, wie viele unterschiedliche Wörter mit dem Lexem „polizist“ pro Jahr im Spiegel gebildet wurden und wie häufig diese Komposita relativ zur Anzahl der Wörter benutzt wurden.
Es zeigt sich, dass die Ereignisse um 1968 die Ursache dafür waren, dass der polizeispezifische Wortschatz in den Medien sich ausdifferenziert hat.
Polizeiliche Mittel
Was wird zum Thema, wenn der SPIEGEL über die Polizei schreibt? Da sind zuallererst einmal polizeiliche Instrumente zur Manifestation des staatlichen Gewaltmonopols zu nennen, beispielsweise der Wasserwerfer:
Die Verlaufskurve reflektiert einige Höhepunkte der Protestgeschichte der BRD: die 68er-Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung und die Proteste gegen die Startbahn West in Frankfurt. Parallel zum Wasserwerfer entdeckte die Presse auch den Polizeiknüppel und den Schlagstock. Erich Duensings geflügeltes Wort vom „Leberwurst-Prinzip — in der Mitte hineinstechen und nach beiden Seiten ausdrücken“ als polizeiliche Taktik für die Auflösung der Demonstration anlässlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 und das Kommando „Knüppel frei“ sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen.
Die absoluten Maxima um 1968 sind auch ein Indikator dafür, dass Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz damals in dieser Dimension noch neu waren und die Polizei angesichts der Konfrontation mit Gewalt und Gegengewalt erst mit ihrer Aufrüstung begann. Eine Aufrüstung, die Ende der 1990er auch zur Aufnahme von Pfefferspray in das Repertoire der Einsatzmittel führte.
Insgesamt muss man aber festhalten, dass in den letzten Jahre deutlich seltener über Polizeieinsätze mit Schlagstock oder Wasserwerfereinsatz berichtet wurde. Auch Komposita, die Polizei in negativer Weise mit dem Einsatz von Gewalt in Verbindung bringen, nehmen im SPIEGEL tendenziell ab:
Daraus zu schließen, dass die Polizei nun in positivem Licht dargestellt wird, ist aber falsch. Wenn Spiegel Online über die Polizei berichtet, dann signifikant häufig im Kontakt des Einsatzes von Gewalt, wobei die Polizei sowohl Ziel als auch Quelle der Gewaltausübung ist. Und diese Verbindung bleibt in fast allen Jahrgängen von SPON und Spiegel print seit den 1960er Jahren stabil.
Trotz ihres guten Images in der Bevölkerung wird die Polizei in Medien wie dem SPIEGEL also stereotyp mit dem Einsatz von Gewalt assoziiert. Umgekehrt gilt dies auch für Demonstranten, über die vorwiegend nur dann berichtet wird, wenn physische Gewalt im Spiel ist. Dass die Repräsentationslogik der Medien eine Legitimationsmöglichkeit für die Eskalation von Gewalt auf Demonstrationen bietet, liegt auf der Hand. Für die Polizei gilt: keine Presse ist gute Presse.
Liebe Freunde der Sicherheit,
heute soll es nicht um Autorenerkennung gehen, sondern um die Frage, wie man den ideologischen Gehalt größerer Textmengen bestimmen kann. Illustrieren möchte ich dies an einem Thema, das uns besonders am Herzen liegt: die Treue zu unserer staatlich-politischen Grundordnung.
Systemkritische Bewegungen haben fast immer auch eine sprachkritische Tendenz. Ähnlich wie antipluralistische Systeme neigen sie zur Ausbildung einer eigenen Ideologiesprache, die zwar nicht notwendigerweise ausdrucksseitig (also im Hinblick auf die verwendeten Wörter und Wendungen), aber immer inhaltsseitig vom herrschenden Sprachgebrauch abweicht. Und dies mit gutem Grund: die herrschende Sprache – so die Vorstellung – habe verschleiernden Charakter und diene der herrschenden Klasse zur Gefügigmachung der Bürger, mithin als Herrschaftsinstrument.
Wahres Sprechen erfordert daher eine neue Sprache – so die an ontologisierende Sprachtheorien erinnernde Position. Selten kommen daher sich als revolutionär verstehende Bewegungen ohne kritische Thematisierungen der gegenwärtigen Sprache aus, bisweilen arbeiten sie sogar sprachliche Gegenentwürfe aus.
Letzteres geschieht häufig in Textsorten, die Wörterbüchern ähnlich sind. Beispielsweise findet sich im Netz ein rechtsextremes Elaborat, das eine Liste mit 126 zentralen Vokabeln aus den semantischen Feldern der Staatstheorie, der Philosophie, der Theologie und der „Rassenkunde“ enthält, die im Sinne der Autoren abweichend vom Alltagssprachgebrauch definiert werden. „Diskriminierung“ wird darin beispielsweise wie folgt bestimmt: „Kulturtugend. Abgrenzung (gegeneinander), Unterscheidung des Häßlichen vom Schönen, des Bösen vom Guten, des Falschen vom Wahren, des Schädlichen vom Nützlichen. Die Diskriminierung ist die grundlegende Fähigkeit, die menschliches Handeln auf den Gebieten der Kunst, der Religion, des Wissens, der Wirtschaft und der staatlichen wie bürgerlichen Ordnung der Gemeinwesen erst ermöglicht.“ Die Definition bezieht sich auf die Bedeutung des lateinischen Verbs „discriminare“, in der das Wort auch ins Deutsche entlehnt wurde. Die Bedeutungsdimensionen der Herabsetzung und der Benachteiligung, die seit dem frühen 20. Jahrhundert die Verwendung des Wortes prägen, werden getilgt.
Die Existenz solcher wörterbuchartigen Umdeutungen von Begriffen ist Symptom einer elaborierten und systematischen Kritik der „herrschenden“ Semantik. Häufiger jedoch findet sich in systemkritischen Texten eine eher unsystematische Ad-hoc-Kritik am gängigen Sprachgebrauch, indem die entsprechenden Ausdrücke metasprachlich markiert werden. Damit wird die Ablehnung der traditionellen Verwendungsweise der markierten Vokabeln zum Ausdruck gebracht. Diese Ablehnung kann sich entweder gegen die Wortform selbst oder gegen das Konzept, das dem Ausdruck zugrunde liegt, richten. Ein rechtskonservativer Politiker übt beispielsweise mit der Formulierung „Einwohner mit ‚Migrationshintergrund'“ Kritik an der in Anführungszeichen gesetzten Wortform und drückt damit aus, dass diese nicht Teil seines persönlichen politischen Vokabulars ist. Kritik am Konzept, das hinter einem Ausdruck steht, wird etwa geübt, wenn von der „sogenannten Demokratie“ die Rede ist. Solche Sprachthematisierungen haben eine strategische Funktion. Daneben gibt es natürlich noch weitere Sprachthematisierungen, die ausschließlich erläuternden Charakter besitzen. Hier werden Wörter definiert, erklärt, oder es wird ihr Gebrauch legitimiert.
Sprachkritische Markierungen bieten somit einen Ansatzpunkt für die informatische Operationalisierung von Einstellungen gegenüber der herrschenden Ordnung, insofern sie als Indikatoren der Kritik an zentralen politischen Konzepten und der herrschenden Semantik insgesamt gedeutet werden können.
Um zu überprüfen, ob die linguistische Kategorie der metasprachlichen Markierung als Indikator für Distanz zur herrschenden Semantik und damit als Marker systemkritischer Gesinnung gelten kann, habe ich zusammen mit Kollegen ein paar Proberechnungen an den Pressemitteilungen der Bundesparteien in der Legislaturperiode von 2005-2009 vorgenommen. Im Folgenden findet ihr die Frequenz von metasprachlichen Markierungen je 10.000 Wörtern (SPD und CDU stehen hier deshalb neben einander, weil sie eine Koalition bildeten; PDL-KPF steht für die Kommunistische Plattform innerhalb der Partei DIE LINKE.).
Die Parteien und Gruppierungen an den Rändern des politischen Spektrum weisen eine höhere Frequenz metasprachlicher Markierungen auf als die im Bundestag vertretenen Parteien. Während bei letzteren der Höchstwert bei rund 20 Sprachthematisierungen je 10.000 Wörtern liegt (CDU), liegt er bei den anderen Parteien, die vom Verfassungsschutz überwiegend als extremistisch bezeichnet werden, zwischen rund 33 (MLPD) und 80 (DKP).
Auch eine qualitative Auswertung der metasprachlichen Ausdrücke, die in den Pressemitteilungen auftreten, bestätigt, dass die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums ihre Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit sprachlichen Mitteln explizit machen. Die folgende Abbildung zeigt den Anteil der metasprachlich markierten Ausdrücke zur Bezeichnung von Institutionen beziehungsweise Grundwerten des demokratischen Verfassungsstaates an allen metasprachlicher Markierungen.
Insbesondere bei den rechtsextremen Parteien, aber auch bei der MLPD findet sich demnach ein vergleichsweise hoher Anteil antipluralistisch intendierter metasprachlicher Markierungen. Zwar liegt der Wert bei den Grünen auch vergleichsweise hoch, allerdings ist die Frequenz metasprachlicher Markierungen bei den Grünen insgesamt derart gering, dass die 3,2 % markierter Ausdrücke, die Grundwerte und Institutionen des Verfassungsstaates bezeichnen, nicht ins Gewicht fallen.
Es scheint also, als seien Quantität und Qualität metasprachlich markierter Ausdrücke ein Indikator für eine kritische Haltung gegenüber der herrschenden politischen Ordnung. Allerdings muss ich noch ergänzen: bei Diskussionsforen ist die explorative Kraft metasprachlicher Markierungen viel geringer. Ein weiterer Beleg dafür, wie zentral die Kategorie Textsorte für die automatisierte Sprachanalyse ist.
Ach so, eins noch: klar werden hier Parteien vergleichen und einige gelten dem Verfassungsschutz als links- und andere als rechtsextrem. Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, dass das Vergleichen ein Gleichsetzen ist.
Liebe Freunde der Sicherheit,
heute möchte ich euch eine linguistische Kategorie vorstellen, mit deren Hilfe man mehr über Texte bzw. ihre Autorinnen und Autoren lernen kann, als mit einer einfachen Schlagwortsuche. Und zwar geht es heute um Kollokationen. Sicher ist euch schon aufgefallen, dass manche Wörter öfter zusammen vorkommen als andere. Warum zum Beispiel sagt man „einen Weg einschlagen“ statt „einen Weg wählen“? Warum „begeht“ oder „verübt“ man Terroranschläge statt sie zu „machen“? Oder warum kommt in den Texten der NPD „Ausländer“ sehr häufig zusammen mit dem Wort „kriminell“ vor?
Während wir bei „Weg einschlagen“ und „Terroranschlag verüben“ nicht sagen könne, warum wir ausgerechnet diese Wörter zusammen benutzen, ist das Wortpaar „kriminelle Ausländer“ relativ leicht als Ausdruck einer Ideologie zu deuten. Und wenn man anhand einer Vielzahl solcher häufig gemeinsam gebrauchter Wörter eine Ideologie aus Texten extrahieren kann, dann ist das ein hübscher Ansatzpunkt für Internetüberwacher und Sprachprofiler.
Zwei Definitionsansätze
Solche mehr oder weniger festen Verbindungen von Wörtern nennt man in der Sprachwissenschaft Kollokationen. Natürlich ist sich die Linguistik uneins darüber, was eine Kollokation ist.
Die einen definieren Kollokationen über formale und semantische Merkmale. Demnach könne man die Bedeutung einer Kollokation oft nicht vollständig aus der Bedeutung ihrer Komponenten herleiten, wie das zum Beispiel bei der Wortfolge „keine müde Mark“ der Fall ist. Außerdem seien die Elemente von Kollokationen nicht einfach durch Synonyme oder ähnliche Wörter ersetzbar. „Mittel zum Zweck“ kann man zwar sagen, nicht aber „Mittel zum Ziel“. Und schließlich könne man Kollokationen auch nicht morphologisch modifizieren, also zum Beispiel „zu Sachen kommen“ statt „zur Sache kommen sagen“. Um eine Kollokation nach dieser Definition zu bestimmen, braucht man linguistische Tests und ein gehöriges Maß an Intuition. Für die Freunde der Sicherheit ist diese Definition daher nur bedingt hilfreich.
Der zweite Definitionsansatz eignet sich da schon viel besser. Er definiert Kollokationen als statistisch überzufällig häufige Wortkombinationen, die in natürlicher Sprache gemessen werden können. Kollokationen sind damit ein sprachstatistisches Phänomen und mithin brauchbar für automatisierte Textanalyse.
Wie berechnet man Kollokationen?
Man berechnet Kollokationen zu einem Lemma wie folgt: Man teilt das Korpus in zwei Subkorpora: eines, das den Kontext des gesuchten Wortes (nehmen wir mal das Wort „Zeit“ als Beispiel) bei jedem seiner Auftreten umfasst; ein zweites, das aus dem Rest des Korpus besteht. Kommt nun ein Wort in Subkorpus 1 (also im Kontext des Lemmas „Zeit“) signifikant häufiger vor als im Subkorpus 2, dann handelt es sich um eine Kollokation zum Wort „Zeit“.
Im Beispiel hier sind beispielsweise die Lemmata „kurz“, „letzt“, aber auch „in“, „zu“ und der bestimmte Artikel gute Kandidaten.
Berechnungsparameter
Kollokationen sind aber natürlich trotzdem nicht objektiv gegeben. Es hängt in hohem Maße von den Berechnungsparametern ab, was als eine Kollokation zu einer Basis aufgefasst wird und was nicht. Zum Beispiel kann man den Raum um die Basis herum variieren, der in den Grafiken oben gelb markiert ist. Man kann Kollokationen aber zum Beispiel auch nur für mit solchen Wörtern berechnen, die im selben Satz stehen. Man kann aber auch grammatische Konstruktionen (z.B. Subjekt-Prädikat-Verbindung) oder Phrasen (Nominalphrasen) als Räume für die Berechnung von Kollokationen ansetzen. Je nach Fragestellung kann es sogar sinnvoll sein, den gesamten Text als Kollokatorenraum zu betrachten. Man erhält jeweils sehr unterschiedliche Ergebnisse.
Natürlich liefert die Kollokation zu einem Wort noch nicht hinreichende Informationen darüber, ob ein Autor oder eine Autorin demnächst einen Kabelbrand legt oder ein Auto anzündet. Aber ich werde demnächst ein paar Beispiele zeigen, was man mit Kollokationen alles machen kann.
Als an meiner Universität ein neues Gebäude errichtet wurde, fanden sich darin auffällig viele Kameras. Ich machte mir den Spaß, die Kameras zu zählen und musste feststellen, dass auf fünf Stockwerken nicht weniger als 43 Kameras mehr oder weniger offensichtlich angebracht waren. Gerne wollte ich nun von meiner Universitätsverwaltung wissen, was der Grund dafür sei, dass sie so viele Überwachungskameras installieren lassen hatte, wo doch von Kriminalität an meiner Universität keine Rede sein kann. Zur Antwort erhielt ich, dass die Universität keine Überwachungskameras habe anbringen lassen, sondern Sicherheitskameras.
Die sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit
Wörter prägen unsere Wahrnehmung. Die Bezeichnung eines Gegenstandes konstruiert diesen Gegenstand mit, besonders dann, wenn er politisch umstritten ist. Die konkurrierenden Bezeichnungen für die in Rede stehenden Kameras heben jeweils einen Aspekt an ihrer Funktion hervor, der den Beteiligten besonders relevant erscheint. Der freundliche Verwaltungsangestellte, der meine Anfrage beantwortete, war überzeugt, dass die Kameras der Sicherheit der Studierenden diene, denn — so seine Begründung — die Bilder, die die Kameras aufzeichne, würden nur dann zur Ansicht freigegeben, wenn etwas vorgefallen sei. Es handle sich also nicht um Überwachung.
„Überwachung“ in Wörterbüchern
Als ich dann das Wort im Grimm’schen Wörterbuch nachschlug, war ich fast geneigt, ihm Recht zu geben. Dort heißt es zur Bedeutung von „überwachen“:
bewachen, beaufsichtigen, im auge behalten, erst seit beginn des 19. jahrh. zu breiter verwendung gelangt
a) personen und sachen ü., beaufsichtigen (…)
b) eine thätigkeit ü., beaufsichtigen
Beaufsichtigt wurde tatsächlich niemand, denn es gab ja keinen Aufseher, also keinen Menschen hinter der Kamera. Auch die abstraktere Definition in Gablers Wirtschaftslexikon rechtfertigt es kaum, im Fall des speziellen Umgangs mit den Kameras an meiner Universität von „Überwachung“ zu sprechen:
Vorgehen, bei dem eventuelle Abweichungen zwischen beobachtbaren Istzuständen und vorzugebenden bzw. zu ermittelnden Sollzuständen festgestellt und beurteilt werden sollen.
Überwachung liegt also dann vor, wenn man Beobachtungen vornimmt, um die Abweichung von einer Norm festzustellen und zu beurteilen. Der Zweck der Überwachung ist die
Fehlerentdeckung und Fehlervermeidung sowie Erlangung von Informationen, die der Entscheidungsverbesserung all derjenigen dienen können, die über das Ergebnis der Überwachung unterrichtet werden.
Eine Kamera also, die Aufzeichnungen macht, die nur dann angesehen werden, wenn jemand eine Straftat meldet, deren Bilder aber sonst nach 48 Stunden gelöscht werden, scheint auf den ersten Blick tatsächlich keine Überwachungskamera zu sein. Denn, so argumentierte der Verwaltungsangestellte: wo keine Auswertung ist, dort ist auch keine Information, wo kein Beobachter ist, dort ist auch keine Überwachung. Die Kameras seien also tatsächlich nur Sicherheitskameras, denn durch ihre bloße Existenz verhinderten sie, dass überhaupt etwas vorfallen könne.
Panoptismus
Ich habe mit meinen Studierenden lange darüber diskutiert, ob sie angesichts der Existenz der Kameras ihr Verhalten verändern oder sich genauso verhalten wie unbeobachtet von den vielzähligen elektrischen Augen. Etwa die Hälfte vertrat die Ansicht, die Kameras hätten keinen Einfluss auf ihr Verhalten. Die andere Hälfte jedoch war der Ansicht, dass die gefühlte Beobachtung ihnen ein zwangloses Verhalten verunmögliche und sie sich merkwürdig diszipliniert fühlten. Das Wissen um die theoretische Möglichkeit, Gegenstand von gezielter Beobachtung durch eine Institution werden zu können, die im Falle eines Falles durchaus Zwangsmaßnahmen zu verhängen bzw. durchzusetzen in der Lage ist, führte also bei einem Teil der Studierenden dazu, dass sie sich Selbstzwängen unterwarfen, die sich verinnerlichten Normen der Richtigkeit und Wohlanständigkeit von Verhalten verdankten. Die Kameras entfalteten in ihnen einen Konformitätsdruck. Für diesen Mechanismus hat Michel Foucault die Bezeichnung Panoptismus geprägt. Auch wenn die Kameras abgeschaltet sind: Sie verweisen auf die Möglichkeit ihres Gebrauchs und können so unser Verhalten beeinflussen.
Selbstzwang und Zivilisation
Die Ausbildung von Selbstzwängen hat Norbert Elias mit dem Prozess der Zivilisation in Beziehung gesetzt. Menschen, die in „einfacheren“ (agrarisch geprägten) Gesellschaften lebten, verfügten seiner Ansicht nach über eine weniger differenzierte Selbstzwangapparatur als Menschen in hochdifferenzierten und besonders in mehrparteilichen Industriegesellschaften. Sie bedürften
zur Selbstzügelung in sehr hohem Maße der Verstärkung durch die von anderen erzeugte Furcht, den von anderen ausgeübten Druck. Der Druck kann von anderen Menschen, also etwa von einem Häuptling ausgehen oder von imaginierten Figuren, also etwa von Ahnen, Geistern oder Göttern. Was immer die Form, es bedarf hier eines sehr erheblichen Fremdzwanges, um bei Menschen das Selbstzwanggefüge zu stärken, das für ihre eigene Integrität, ja für ihr Überleben – wie auch für das der anderen Mitlebenden – erforderlich ist.
Zivilisationsprozesse sind, wie ich bei meinen Untersuchungen fand, gekennzeichnet durch eine Veränderung im Verhältnis von gesellschaftlichen Fremdzwängen und individuellen Selbstzwängen.
Die allgegenwärtigen Kameras sind keine Häuptlinge und keine strafenden Götter. Sie sind keine Fremdzwangapparate, die uns drohen. Sie sind aber mehr als das kritische Auge oder der strafende Blick der Mitmenschen, der uns dazu bewegt, die Normen unseres Zusammenlebens zu hinterfragen und so einen zivilisatorischen Effekt zu entfaltet. Sie sind auch Manifestationen unserer kollektiven Ängste. Doch bilden sie diese Ängste nicht einfach ab. Sie verstärken sie.
Quellen:
„Sicherheit“ ist eines jener politischen Schlagwörter, die in fast allen Verwendungskontexten positiv konnotiert sind: ein Mirandum. Keine Partei kann ernsthaft gegen Sicherheit sein, so wie keine Partei es sich erlauben kann, gegen soziale Gerechtigkeit oder Freiheit zu politisieren. Gerade deshalb kann die Vokabel der Sicherheit aber dazu benutzt werden, um in ihrem Namen politisch umstrittene Maßnahmen zu rechtfertigen. Wie viele politischen Schlagwörter ist „Sicherheit“ semantisch unterbestimmt und offen für viele Verwendungsweisen. Entsprechend wird der Begriff der Sicherheit von den Parteien in Deutschland unterschiedlich oft und je nach Partei in unterschiedlichen Kontexten schwerpunktmäßig verwendet.
Die folgende Grafik zeigt, dass insbesondere Parteien, die sich das Eintreten für Bürgerrechte auf die Fahnen geschrieben haben, das Lemma „Sicherheit“ und seine Derivate besonders häufig verwendet werden. Die Grafik zeigt die relative Frequenz je 10.000 Wörter in den Pressemitteilungen der Jahre 2005-2009. An der Spitze liegen die Grünen mit durchschnittlich 12,3 Referenzen auf Sicherheit je 10.000 Wörter, gefolgt von der FDP mit 11,1. Am Ende des Rankings finden sich mit weitem Abstand die SPD und überraschenderweise die rechtsextreme NPD.
Trotz der relativen hohen Frequenz der Verwendung des Wortes bei den GRÜNEN ist der Gebrauch auf wenige Verwendungskontexte beschränkt: auf das Spannungsfeld von Sicherheit auf der einen und Bürgerrechten und Freiheit auf der anderen, auf die (mangelnde) Sicherheit der Atomenergie und damit zusammenhängend der Ausbau alternativer Energien und schließlich den Schutz von Familien, Verbrauchern, aber auch des geistigen Eigentums. Dies illustriert die folgende Abbildung. Sie zeigt jene Wörter, die besonders häufig zusammen mit dem Wort „Sicherheit“ verwendet werden.
Die SPD benutzt „Sicherheit“ dagegen dominant im Kontext sozialer Themen. Dies illustriert das unten stehende Kollokagramm zum Lemma „Sicherheit“. Der Schutz der „guten“ Arbeit und die Sicherheit von Arbeitsplätzen in Zeiten der Globalisierung sind demnach das zentrale Thema der SPD. Sicherheit ist ein Wert, der den Menschen ein Stück Würde gibt. Die so verstandene Sicherheit ist zwar nicht direkt mit (sozialer) Gerechtigkeit verknüpft, aber dennoch mit ihr über andere zentrale Begriffe assoziiert. Das Wortnetz zeigt überdies sehr schön, wie die SPD die Menschen im Spannungsfeld von Sicherheit, Freiheit und (starkem) Staat verortet.
Auch bei der FDP finden sich die Menschen, die stets als „Bürger“ bezeichnet werden, im Kräftefeld von Freiheit, Sicherheit und Staat wieder. Doch fehlt dem Staat im Unterschied zur SPD das Atrribut „stark“. Der Staat der FDP gewährleistet die Versorgungssicherheit und schützt die Freiheit. Die soziale Sicherheit ist nur ein Aspekt von Sicherheit. In ihr tritt neben die insgesamt marginaler platzierte soziale Gerechtigkeit auch die Leistungsgerechtigkeit. Der Sicherheitsbegriff der FDP hat zudem auch eine starke sicherheitspolitische Dimension: nach Innen mit der Polizei, nach außen mit der Bundeswehr, wobei dei europäischen und transatlantischen Allianzen betont werden.
Bei der CDU verweist die Verwendung des Lemmas „Sicherheit“ auf eine starke Affinität zu den Politikfeldern innere und äußere Sicherheit. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und die Sicherung von Frieden, Freiheit und Menschenrechten im europäischen Kontext bilden einen wichtigen Assoziationskomplex. Daneben ist der Sicherheitsbegriff der CDU auch mit sozialpolitischen Themen verbunden, wobei die Sicherheit des sozialen Netzes und der sozialen Sicherungssysteme im Zentrum stehen. Ein Alleinstellungsmerkmal bei der CDU ist die häufige Referenz auf die Sicherheit der Kernkraftwerke und damit gekoppelt der Energieversorgung.
Bei der Partei „Die Linke“ (PDL) lassen sich drei Dimensionen des Sicherheitsbegriffs identifizieren: eine sozialpolitische (soziale Sicherheit und Teilhabe), eine auf die Grundwerte bezogene (Spannungsfeld von Sicherheit, Freiheit und Bürgerrechten) und eine militärische, die freilich kritisch gewertet wird.
Die NPD ist die einzige Partei, bei der Sicherheit und Kriminalität ein hochfrequent assoziiert sind. Daneben werden Sicherheit und nationale Identät und Eigeninteressen in einen semantischen Zusammenhang gebracht. Die große Nähe der Lemmata „deutsch“, „Volk“ und „NPD“ zeigt, wie sehr in der braunen Ideologie Partei und Volk Ineinsgesetzt werden.
Für dieses Blogs ist das bei mehreren Parteien sichtbar werdende Spannungsfeld von Sicherheit und Grundrechten wie Freiheit oder informationelle Selbstbestimmung das zentrale Thema. Dennoch sollen die Verbindungen zu den anderen Themenbereichen nicht aus den Augen verloren werden. Denn sie sind die argumentativen Quellen für die Verschiebungen im Wertefeld, die wir in den vergangenen Jahren beobachten mussten.