Anleitung zur sprachlichen Radikalisierung

Posted on 6th Januar 2013 in Off Topic

Sie wollen die Revolution? Ein bisschen die Welt retten? Oder Sie möchten einfach nur erfolgreich trollen, provozieren, spalten? Achten Sie auf Ihre Sprache! Denn sie ist das beste Mittel, die Wirklichkeit so zu konstruieren, dass nur Ihr Denken als vernünftig und gerecht und nur Ihr Handeln als schlüssig und integer erscheint, das Ihrer Gegner hingegen als falsch, unmoralisch, korrupt oder von mangelnder Awareness geprägt.

Machen Sie sich zunächst mit folgenden Aspekten der Bedeutung vertraut, um möglichst virtuos auf der Klaviatur der sprachlichen Wirklichkeitskonstruktionen spielen zu können:

  • deskriptiver Bedeutungsaspekt: inhaltliche Merkmale, die an einem Sachverhalt durch die Bezeichnung hervorgehoben werden
  • deontischer Bedeutungsaspekt: die Bewertung die die Verwendung eines Ausdrucks transportiert und ihre normative Dimension
  • konnotativer Bedeutungsaspekt: Assoziationen und Emotionen, die mit der Verwendung eines Ausdrucks verbunden sind
  • Referenzobjekt(e): mit dem Ausdruck bezeichnete Gegenstände oder Sachverhalte

Folgen Sie bei der Wahl ihrer Wörter den vier goldenen Regeln:


1. Verengen Sie die deskriptiven Bedeutungsaspekte durch die Wahl Ihrer Bezeichnung auf einen Bereich, der möglichst negativ besetzt ist und ein hohes Skandalisierungspotenzial hat. Spechen Sie von der BRD als einer „Parteiendiktatur“ oder sagen Sie, dass wir in einer „Rape Society“ leben. Oder nennen Sie Personen, die sich für eine Gleichstellung der Geschlechter einsetzen, „Femnazis“. Bedenken Sie aber, dass nicht immer das böseste Wort auch das wirkungsvollste ist, denn es könnte auf Sie zurückfallen.
Welche Bezeichnung wäre wohl für den 29C3 die beste?

  1. „Sexistencongress“
  2. „Kongress für heterosexuelle weiße Männer“
  3. „Burschentag“

Die Antwort ist b., denn mit dieser Bezeichnung transportieren Sie Sexismus- und Rassismusvorwurf, ohne selbst allzu aggressiv zu wirken; „weiß“, „heterosexuell“ und „Mann“ sind ja für die Mehrheit der Menschen erstmal keine bösen Wörter.


2. Wenn Sie etwas kritisieren wollen, erweitern Sie den Bedeutungsumfang eines negativ konnotierten Begriffs so weit, dass der in Ihren Augen kritikwürdige Sachverhalt unter diesen Begriff subsummiert werden kann. Achten Sie darauf, dass die konnotativen und deontischen Bedeutungsaspekte dadurch nicht verwässert werden. Sprechen Sie von „Vergewaltigungskultur“ und sagen Sie Sätze wie: „Ich kann es nicht leiden, wenn mir jemand so intenisv in die Augen guck[t], da fühle ich mich vergewaltigt.“


3. Wenn Wörter nicht in dem Sinn verwendet werden, der Ihren Anliegen entspricht, referieren Sie auf ihre „eigentliche“ oder „ursprüngliche“ Bedeutung, die immer gültig ist. Kritisieren Sie jede Verwendung, in der die Bedeutung von der „eigentlichen“ Bedeutung abweicht, als fehlerhaft, politisch motiviert oder unethisch. Ein hervorragendes Beispiel liefert Ihnen Sprachwissenschaftler A.S., der während seines Talks auf dem 29C3 sagte:
„Student“ bedeutet: „Mann, der studiert“ und nichts anderes. Es bedeutet in jedem Kontext „ein Mann, der studiert“.
Lehnen Sie wie A.S. das Konzept der Gebrauchsnorm ab. Erklären Sie einfach, dass es falsch ist, wenn die Massenmedien „Student“ im Sinn von „Person, die studiert“ verwenden und spekulieren Sie über strukturellen Sexismus. Werfen Sie alle Vorurteile gegenüber dem Analogismus, Präskriptivismus und Purismus über Bord: Die Bedeutung liegt für Sie in den Worten selbst oder in den Strukturen der Sprache, nicht aber in ihrem Gebrauch.


4. Verwenden Sie normative Begriffe mit dem Anspruch, ausnahmslos alle Referenzobjekte mit Ihrer Bezeichnung zu erfassen. Damit schließen Sie nämlich all jene traditionell unter die Bezeichnung gefassten Referenzobjekte aus, die den normativen Ansprüchen nicht entsprechen. Dadurch eröffnen Sie sich völlig neuartige Handlungsoptionen. Reservieren Sie die Bezeichnung „Mensch“ beispielsweise ausschließlich für jene, die sich nicht zu Knechten der von Ihnen verhassten Ordnung gemacht haben, und nennen Sie alle anderen „Typen“ oder „Schweine“. Nun können Sie Sätze sagen wie:
„Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine. Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch. Und so haben wir uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden. Und natürlich kann geschossen werden. Denn wir haben nicht das Problem, daß das Menschen sind, insofern es ihre Funktion ist beziehungsweise ihre Arbeit ist, die Verbrechen des Systems zu schützen, die Kriminalität des Systems zu verteidigen und zu repräsentieren. Und wenn wir es mit ihnen zu tun haben, dann sind das eben Verbrecher, dann sind das eben Schweine, und das ist eine ganz klare Front.“


Sie haben die höchste Stufe der sprachlichen Radikalisierung erreicht. So werden Sie jeden Shitstorm mit einem Achselzucken über sich ergehen lassen, nach jedem Twitterwar als Sieger oder Siegerin vom Feld schreiten. Sie werden für viele Tweets sorgen und häufig retweetet werden. Sie haben erfolgreich getrollt, nachhaltig gespaltet oder die Welt gerettet! Herzlichen Glückwunsch!

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