Wittgenstein im Web 2.0

Posted on 2nd Februar 2013 in Digitale Revolution, Off Topic

Das Internet hat uns alle zu potentiellen Sendern gemacht. War die Öffentlichkeit früher durch die Gatekeeperfunktion der Massenmedien geprägt, so steht der Zugang zu den publizistischen Produktionsmitteln im Web 2.0 jedermann offen. Der angenehme Effekt, von dem auch ich als Wissenschaftler hier und da beglückt wurde: Einstmals angesehene Autoritäten verlieren ihre Deutungsmacht und kommen in die unangenehme Situation, sich argumentativ rechtfertigen zu müssen — vor den Interessierten und Engagierten, aber auch vor den digitalen Spießern.

Wie ergeht es aber jenen, die sich nicht mehr rechtfertigen können, weil sie etwa schon tot sind? Wie ergeht es beispielsweise dem von mir sehr verehrten Ludwig Wittgenstein im Web 2.0? Auf goodreads.com können Rezensionen zu Büchern hinterlassen werden und auch Wittgenstein wird fleißig und schonungslos besprochen. Solche Rezensionen sind dann von besonderem Wert, wenn sie quer zur bisherigen Forschungsmeinung stehen und Aspekte am Werk betonen, die bislang noch kaum in den Blick gerückt sind, wie etwa in der folgenden Rezension der Philosophischen Untersuchungen von meinem Kollegen Prof X:

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Als besonderer Kenner von Wittgensteins Werk erweist sich auch Autor JB. In einer differenzierten Würdigung des Tractatus logico-philosophicus übertrifft er die aphoristische Kraft des rezensierten Werks um Längen:

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Doch JB kann es noch besser: In einer weiteren Rezension verbindet er auf engstem Raum eine von tiefer Textkenntnis zeugende Einordnung der Philosophischen Untersuchungen in das Gesamtwerk Wittgensteins mit an der historisch-kritischen Methode geschulten Anmerkungen zur Textgestalt, kombiniert dies mit einer biographischen Deutung des Gesamtwerks und verpackt seine Kritik in eine in seiner Tiefgründigkeit nur schwer zu fassende Anspielung auf einen absoluten Höhepunkt der Weltliteratur:

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Die Konzepte der Autorität und Deutungsmacht relektiert Rezensent Josh in einem anspielungsreichen, den rezensierten Tractatus an intellektueller Schärfe bei weitem übertreffenden, Aphorismus:

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Kommen wir zu einem anderen Klassiker, über den besonders viele weibliche Mitglieder der Netzgemeinde Tiefsinniges ins Eingabeformular getippt haben: Friedrich Nietzsche. Auch hier möchte ich einige der kenntnisreichsten und erkenntnisfördernsten Texte zu Also sprach Zarathustra vorstellen.

Rezensentin Susan vollbringt das intellektuelle Kunststück, Namensschreibung und Deutung des Gesamtwerks überzeugend in eine sinnhafte Beziehung miteinander zu setzen:

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Neu war mir, dass die Plagiatsjäger auch bei Nietzsche fündig geworden sind:

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Als überaus produktiv erweist sich auch die Lektüre des Werks aus der Perspektive der gender studies, aus der Gloria Suzie zentrale Fragen an Text und Autorfunktion heranträgt:

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Und Autorin Devon dekonstruiert Nietzsche aus einer cis-weiblichen Position:

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Getreu dem Aphorismus „‚Erkenne dich selbst‘, ist die ganze Wissenschaft“ deutet Rezensentin Gini den Text im Sinne der performativen Dimension der Lektüre auf die Leserin, also sich selbst:

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Auch die Autorität eines weiteren Stars der Philosophie bleibt von kritischen Reflexionen im user generated content nicht unangetastet: Immanuel Kant.

Während einige Kants Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft differenziert argumentierend aus grundsätzlichen Erwägungen rundweg ablehnen…

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… stellen andere die Bedeutung des Königsberger Philosophen nicht in Frage, kritisieren ihn jedoch wegen mangelnder Lebhaftigkeit in der Darstellung …

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… und dem zugegebenermaßen chaotischen und unsystematischen Aufbau seines Werks:

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Andere hingegen betonen ganz im Gegensatz zur relativen Körperferne der Transzendentalphilosophie die Materialität des Textes und die Möglichkeit seiner Einschreibung in den eigenen Leib — ein im etablierten philosophischen Diskurs bislang völlig unbeachteter Zugang zu Kants Werk:

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Auch an subtilem Humor fehlt es den Rezensentinnen nicht, die in den feinen Verästerlungen der Sprache ironisch verpackte Kritik anklingen lassen:

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Der letzte Theoretiker, dessen kritische Würdigung im Web 2.0 hier vogestellt werden soll, ist John Langshaw Austin und dessen einflussreiches Hauptwerk How to Do Things with Words. Ein Werk, das schon bei der ersten Sichtung zu begeisterten Kommentaren führt:

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Doch ein eingehendes Studium des Textes lässt auch die kritikwürdigen Aspekte hervortreten. Bean verortet Austin etwa in innovativer Weise im puristischen Diskurs.

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Andere Rezensenten bemängeln trotz Anerkennung des durch Austin geleisteten Erkenntnisfortschritts den mangelnden Anwendungsbezug:

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Kritisch wird das Scheitern der Austinschen Anleitung zum Wortgebrauch auch im Hinblick auf Sprechakte reflektiert, die an Unbelebtes gerichtet werden; eine Dimension, die der Meister in seinem Werk völlig außer Betracht ließ:

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Hannah Arendt schreibt in „Macht und Gewalt“: „Autorität bedarf zu ihrer Erhaltung und Sicherung des Respekts entweder vor der Person oder dem Amt. Ihr gefährlichster Gegner ist nicht Feindschaft sondern Verachtung, und was sie am sichersten unterminiert, ist das Lachen.“ Ich danke dem Web 2.0 für die Öffnung vieler diskursiver Räume und wünsche mir mehr von dem Humor, der in anderen Teilen des Webs immer wieder aufscheint auch in seinem deutschsprachigen Teil.


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