Gibt es einen sprachlichen Fingerabdruck?

Liebe Freunde der Sicherheit,

oftmals sind sprachliche Spuren das einzige, was wir von vermeintlichen Täterinnen und Tätern haben. Besonders im Internet, wo Kriminelle ihre digitalen Identitäten trotz aller Bemühungen noch immer verschleiern können, sind die anonymen sprachlichen Äußerungen von Gefährdern oder geistigen Brandstiftern die einzige Möglichkeit, ihre wahre Identität aufzudecken.

So wie ein Einbrecher bei seinen Untaten Fingerabdrücke hinterlässt, so wie ein Vergewaltiger anhand seiner DNA-Spuren identifiziert werden kann, so können forensische Linguisten Täter anhand ihrer Sprache dingfest machen. So wie man durch den Abgleich von Fingerabdrücken und Zellresten mit einer Fingerabdruck- oder DNA-Datenbank einen Täter identifizieren kann, brauchen Sprachforensiker nur die sprachlichen Spuren des Täters am Tatort mit Texten abzugleichen, die einem Verdächtigen sicher zugeordnet werden können. Und wenn das sprachmaterial mit den Spuren übereinstimmen, dann klicken die Handschellen. Der sprachliche Fingerabdruck hat den Täter überführt.

So jedenfalls wollen uns so manche Informatiker glauben machen, die ihre Aufsätze mit so viel versprechenden Titeln wie „From Fingerprint to Writeprint“ betiteln. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich daran glauben oder ob es Teil einer Strategie ist, sich mehr Drittmittel einzuverleiben. Denn: einen sprachlichen Fingerabdruck gibt es nicht. Höchstens als irreführende Metapher.

Was ist ein Fingerabdruck?

Dazu muss man zunächst verstehen, was ein Fingerabdruck ist. Bei einem Fingerabdruck handelt es sich um eine Visualisierung der Papillarleisten am Endglied eines Fingers. Diese bilden offenbar abhängig von den Erbanlagen und von der Ernährung des ungeborenen Kindes eine individuelle Form aus, die sich im Laufe des Lebens nicht mehr oder kaum mehr verändert. Damit ein Fingerabdruck für eine computergestützte Forensik brauchbar ist, d.h. zum Beispiel in einer Datenbank erfasst und maschinell abgleichbar ist, wird ein Merkmalsset standardisiert erfasst. Die jeweilige Merkmalskombination gilt als einmalig.

Ähnlich verhält es sich mit dem sogenannten genetischen Fingerabdruck. Hier wird für forensische Zwecke keineswegs die gesamten Erbgutinformationen gespeichert und für einen Datenbankabgleich verfügbar gemacht. Vielmehr werden bestimmte Stellen in der DNA daraufhin untersucht, wie häufig an ihnen sogenannte short tandem repeats (STRs), also Wiederholungen von bestimmten Sequenzen vorkommen. Die variable Anzahl der Wiederholungen an diesen Punkten ergibt eine individuelles Profil, das einer Person zugeordnet werden und zu deren Identifizierung benutzt werden kann. Die DNA eines Menschen ist im Prinzip invariant und eignet sich daher gut, um Personen zu identifizieren.

Beide Verfahren beruhen also auf der Analyse messbarer Entitäten, die ihren Ursprung in biochemischen Prozessen haben, die sich einem unmittelbaren individuellen oder sozialen Einfluss entziehen.

Man könnte es sich nun leicht machen und sagen: Sprache ist im Gegensatz dazu etwas Soziales. Um verständlich kommunizieren zu können, müssen wir uns auf soziale Konventionen beziehen, auf übliche Verwendungsweisen von Wörtern (vulgo: Bedeutung) und auf Regeln, wie diese Wörter zu Sinneinheiten (vulgo: Grammatik) zusammengesetzt werden. Zudem kommunzieren wir auch nicht nur nach unseren Vorstellungen, sondern richten unsere Äußerungen auf unser intendiertes Publikum hin aus und konstruieren damit auch einen sozialen Kontext. Unseren Papillarleisten ist es aber egal, wem wir die Hand geben oder für wen wir Kaffee kochen. Sie sehen immer gleich aus. Wir treffen auch kontextabhängig keine Auswahl aus unserer DNA wie wir aus den in der Sprache möglichen Ausrucksweisen wählen, je nach dem, was wir gerade stilistisch für angemessen halten.

Abdruck wovon?

Aber so leicht würden es uns die Informatiker nicht machen. Sie würden vielleicht sagen, dass wir das Ontologisieren bleiben lassen sollten, denn abstrakt hätten wir es eben doch mit dem gleichen Problem zu tun: immer geht es darum, Merkmalsmuster zu finden, die als typisch für eine Person gelten sollen. Bei Papillarleisten oder der DNA kommen wir mit weniger Merkmalen aus als bei der Sprache, aber auch bei der Sprache ermöglicht die sprachliche Kompetenz und die Auswahl, die jeder Mensch aus den ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln trifft, die Erstellung eines individuellen Merkmalprofils. Und mal ehrlich: die short tandem repeats haben schon eine große Ähnlichkeit mit den n-Grammen aus der Linguistik.

Hier kommen wir aber nun an den Punkt, wo es sich lohnt über die Bedeutung des Wortes „Abdruck“ zu reflektieren. Während wir wissen, dass ein Fingerabdruck immer ein Abbild des einen betreffenden Fingers ist, dass die DNA in einer Zelle eine exakte Kopie der DNA aller anderer Zellen im Körper der betreffenden Person ist, so wissen wir überhaupt nicht, auf was eigentlich der sprachliche „Abdruck“ verweisen soll. Was drückt sich denn da ab, wenn wir schreiben?

Um von einem sprachlichen Fingerabdruck zu sprechen, müsste es etwas sein, das garantiert, dass beim nächsten Mal exakt das gleiche Muster wieder sichtbar wird. Das einzige, was mir als Linguist hier einfiele, ist die sprachliche Kompetenz. Aber gerade die ist nicht fest, sie wandelt sich ständig. Mit jedem Wort, das ich spreche, mit jedem Satz, den ich schreibe oder lese, aktualisiert sie sich. Und jede Aktualisierung ist eine (wenn auch kleine) Veränderung. Deshalb gibt es auch keinen sprachlichen Fingerabdruck: Es gibt kein festes Muster, an dem wir die Typizität einer Äußerung messen könnten.

Wir können lediglich Ähnlichkeiten zwischen Texten berechnen und mit Wahrscheinlichkeiten operieren. Mit der Evidenz eines Fingerabdrucks oder einer DNA-Spur hat das wenig zu tun. Und gegen gut gemachte sprachliche Maskeraden sind wir ohnehin machtlos.

 

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